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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
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bestehen. Meine Erfahrung ist, dass manche Kliniker bei fast allen Patienten, die zu ihnen kommen, dieselbe Diagnose stellen und dieselbe Therapie vorschlagen. Andere entwickeln nach der Teilnahme an einer Konferenz oder nach dem Besuch eines Pharmavertreters einen kurzfristigen Enthusiasmus für eine bestimmte Diagnose.
    Zu viele Ärzte schwimmen im Strom der neuesten Modediagnose oder des neuesten »Wundermittels«, das auf den Markt geworfen wurde. Erwarten Sie stets von Ihrem Arzt, Ihrer Ärztin allgemeinverständliche Begründungen und Erklärungen für jede diagnostische Entscheidung und fragen Sie gegebenenfalls nach. Stoßen Sie auf Zurückhaltung oder Ärger bei Ihrem Gegenüber oder können Sie mit der Diagnose nichts anfangen, wäre vielleicht ein Arztwechsel angebracht.
    Welcher Fachbereich diagnostiziert am besten?
    Diese Frage wird mir häufig gestellt; auch in der folgenden Variante: Muss ich wegen einer Diagnose unbedingt einen Psychiater aufsuchen oder kann ich meinem Psychotherapeuten und/oder Hausarzt trauen?
    Die Antwort ist komplex. Kein Fachbereich hat ein Monopol auf fantastische oder miserable Diagnostiker. Im Schnitt folgen Ausbildung und Qualifikation in der Diagnostik dieser Hierarchie: 1. Psychiater, 2. Psychologen, 3. Psychiatrieschwestern und -pfleger, 4. Sozialpädagogen, 5. psychologische Berater, 6. psychiatrische Ergotherapeuten. Aber man kann sich nicht aufs Diplom verlassen – unter den schlechtesten Diagnostikern, denen ich begegnet bin, waren viele Psychiater und unter den besten Diagnostikern etliche Psychiatrieschwestern und Sozialpädagogen. Die Variationsbreite innerhalb der Berufszweige ist ausgeprägter als zwischen verschiedenen Berufen – umso mehr ein Grund, kluge/r Konsument/in zu sein und aus eigenem Antrieb das Thema zu recherchieren, sodass Sie (und die Ihnen nahestehenden Menschen) tatsächlich eine gut informierte zweite Meinung liefern und den Prozess beobachten können.
    Besonders schwierig ist es, die Allgemeinärzte in der Hierarchie der Diagnostiker unterzubringen. Manche sind absolut brillant in der psychiatrischen Diagnostik, den meisten jedoch fehlt das fachliche Wissen oder sie sind zu beschäftigt oder es ist ihnen schlicht egal. Das ist schon deshalb wichtig, weil Psychopharmaka tatsächlich häufig von Allgemeinärzten verschrieben werden.
    Wenn Ihr Hausarzt Sie gut kennt und vor der Verschreibung einer Therapie ausführlich mit Ihnen gesprochen hat, kann er durchaus richtig liegen. Aber seien Sie immer argwöhnisch, wenn Ihnen nach einem siebenminütigen Arzttermin eine Diagnose und ein Therapieplan vorgelegt werden oder der Arzt Ihnen »für den Anfang« erst einmal kostenlose Ärztemuster anbietet. Umsonst ist gar nichts, und die Entscheidungen des Arztes könnten von überzeugenden Pharmareferenten beeinflusst sein, aber auch von seinem Wunsch, Sie so rasch und leicht wie möglich wieder loszuwerden.
    Seien Sie sich bewusst, dass Hausärzte im Allgemeinen viel zu viele Medikamente verschreiben und besonders großzügig bei Angstlösern und Neuroleptika sind. Ich würde mir grundsätzlich eine zweite Meinung anhören, ehe ich solche Medikamente einnehme.
    Und selbstverständlich rate ich Ihnen, unbedingt einen Psychiater, eine Psychiaterin aufzusuchen, wenn Ihre psychiatrischen Probleme schwer sind und/oder wenn Sie zusätzlich medizinische Beschwerden haben.
    Ist eine psychiatrische Diagnose eine Familienangelegenheit?
    Fast immer, ja, aber gelegentlich auch nicht. Dass wir blinde Flecken haben und unsere Sicht auf die Welt von Voreingenommenheiten gefärbt ist, liegt in der menschlichen Natur. Am stärksten jedoch wirken Voreingenommenheiten und blinde Flecken zweifellos beim Blick in den Spiegel. Bis hierher haben wir Sinn und Nutzen der Selbstdiagnose gelobt, wir müssen aber auch zugeben, dass sie ihre Grenzen hat und womöglich auch negative Konsequenzen.
    Ungenaue oder falsche Selbstwahrnehmung ist typisch menschlich, aber im Fall psychischer Störungen kann sie tatsächlich zu einem Problem werden. Zum Beispiel ist eine schwer eingeschränkte Selbsterkenntnis ein Merkmal bestimmter psychiatrischer Erkrankungen wie Schizophrenie, Manien, Depressionen mit Wahnvorstellungen, Anorexie, Demenz und bei soziophoben und narzisstischen Persönlichkeitsstörungen. Aber bei vielen weniger schweren Leiden kann die Selbsterkenntnis auch auf subtilere Weise gestört sein – vielleicht sehen Sie als Letzter ein, dass Ihre Depression (oder Ihre

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