Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Angststörung oder Ihr Suchtverhalten) eine signifikante Beeinträchtigung für Sie und Ihre Umgebung darstellt, und Sie sind der Letzte, der in der Lage ist, die nötige Hilfe zu suchen. Bedenken Sie, dass zwei Drittel der Personen mit schweren psychischen Störungen nicht die Therapie erhalten, die ihr Leben radikal verbessern könnte.
An dieser Stelle kommt die Familie ins Spiel. Menschen, die einem nahestehen, können ungemein hilfreich sein, wenn es darum geht, Informationslücken und mangelnde Einsicht beim Patienten zu überbrücken und den nötigen Druck auszuüben, ohne den vielleicht keine Hilfe gesucht wird. Häufig sind Angehörige genauere Beobachter der Symptome im Alltag und ihres Einflusses auf das Funktionieren der betroffenen Person und auf ihre Beziehungen. Aus diesem Grund habe ich auch immer versucht, bei der diagnostischen Begutachtung eines neuen Patienten die Angehörigen mit einzubeziehen – sofern er Angehörige in der Nähe hat und sie und er damit einverstanden sind. Wenn die räumliche Entfernung ein persönliches Gespräch schwierig macht, ist der Kontakt über Telefon oder Skype immer noch besser als gar nichts. Jeder Angehörige kann einzigartige Einblicke und Informationen beisteuern, die im Ganzen genommen eine viel genauere Diagnose ergeben als die Schlussfolgerungen einer einzigen Person. Zusätzlich ist es hilfreich, wenn sich alle in der Familie an der Beobachtung von Art, Verlauf und Schwere der Symptome beteiligen und wenn alle während der Therapie von derselben Wissensgrundlage ausgehen.
Ausnahmen von dieser Regel sind Situationen, in denen eine aktive Beteiligung von Angehörigen an der Diagnostik ihrerseits Probleme verursachen kann. Am schmerzlichsten zeigt sich dies dann, wenn innerhalb der Familie keine Liebe herrscht und die Angehörigen die Therapiebemühungen konterkarieren. Bei einer Familienfehde kann ein psychiatrisches Etikett als gefährliche Waffe benutzt werden; das gilt insbesondere dann, wenn die Auseinandersetzung sich unter anderem um Kindererziehung und Sorgerecht dreht. Ehe die Familie in die Diagnostik eines ihrer Mitglieder einbezogen werden kann, muss die Fehde beigelegt sein. Es kommt durchaus vor, dass die Therapie eines Familienmitglieds den Konflikt entschärft – zumal wenn der Zwist zumindest teilweise durch das psychiatrische Problem des Betroffenen ausgelöst wurde – und die Familie auf konstruktive Weise wieder zusammenfindet.
Eine zweite Ausnahme sind junge Erwachsene, die nach mehr Unabhängigkeit streben: Bei ihnen könnte es nötig sein, dass sie ihr Leben ohne Beteiligung der Familie in den Griff bekommen. Das ist allerdings eher selten: In den meisten Fällen ist die Familie entscheidender Bestandteil der sachgemäßen Diagnostik.
Wann sollte eine psychiatrische Diagnose neu bewertet werden?
Erste Eindrücke, im Leben wie in der psychiatrischen Diagnostik, sind nicht unbedingt zutreffend. Es gibt Fälle, in denen es besonders wichtig ist, die ursprüngliche psychiatrische Diagnose lediglich als erste Vermutung und nicht als feststehende Tatsache zu betrachten.
Am verbreitetsten ist, dass der Behandlungsplan, der speziell auf die betreffende Diagnose abgestimmt wurde, nach einem angemessenen Versuch (d. h. nach ausreichender Dosierung der Medikation über einen ausreichenden Zeitraum hinweg) nicht die gewünschten Ergebnisse zeitigt. Dass eine Therapie nicht anschlägt, kann natürlich auch bei einer völlig klaren und eindeutigen Diagnose und geeigneten Therapie vorkommen. Die erste Frage muss immer lauten: Haben Sie die Medikamente wie vorgeschrieben eingenommen/haben Sie Ihre psychotherapeutischen Hausaufgaben gemacht? Eine Behandlung darf nicht als gescheitert abgetan werden, ehe ihr eine faire Chance eingeräumt wurde. Selbst in solchen Fällen geht im Schnitt ein Drittel der Versuche schief. Das bedeutet, es könnte eine Alternativbehandlung angezeigt sein, die bei der jeweiligen Diagnose ebenfalls eingesetzt wird. Aber es müssen immer auch andere Möglichkeiten berücksichtigt werden – etwa dass die Therapie wegen Ungenauigkeit oder Unvollständigkeit der ursprünglichen Diagnose nicht optimal war. Suboptimale Diagnosen und Therapien müssen immer als mögliche Ursachen eines mangelhaften Behandlungserfolgs in Erwägung gezogen werden. Manchmal wirken eine neue Diagnostik und eine neue, besser passende Therapie Wunder.
Diagnostisches Versagen ist häufig auch dann der Fall, wenn Substanzmissbrauch (vor allem bei
Weitere Kostenlose Bücher