Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
jüngeren Patienten) oder medizinische Probleme oder Nebenwirkungen der Medikamente (besonders bei älteren Patienten) das Leiden verursacht haben oder jedenfalls komplizieren. Ungenaue oder falsche Diagnosen können auch zahlreiche andere Ursachen haben – einen inkompetenten Diagnostiker zum Beispiel, einen nicht kooperativen Patienten, Zeitmangel bei der Begutachtung, eine situationsbedingt geringe diagnostische Stabilität. Wenn die Erstbehandlung keinen ausreichenden Erfolg zeitigt, ist es hilfreich, sich anzusehen, wie genau die Diagnosekriterien erfüllt wurden und ob bei der ersten Runde irgendetwas übersehen wurde. Das sollten Sie mit Ihrem Arzt besprechen, aber es ist immer auch gut, sich selbst ein Bild zu machen und/oder eine zweite (oder dritte) Meinung zu hören.
Diagnosen, die zu einem frühen Zeitpunkt, nicht lang nach Einsetzen der psychiatrischen Symptome, gestellt werden, sind seltener akkurat und stabil als diejenigen, die auf längerer, umfassender Beobachtung beruhen. Das gilt besonders für die Diagnostik bei Kindern, bei denen entwicklungsbedingt eine rasche Änderung oder Besserung eintreten kann, und bei Jugendlichen, bei denen auch Drogen, Druck durch die Peergroup, Probleme innerhalb der Familie und Schwierigkeiten beim Erwachsenwerden komplizierend hinzutreten können. Verbindliche Diagnosen können bei jungen Leuten nur gestellt werden, wenn ein klares, eindeutiges Erscheinungsbild vorliegt. Nicht immer können wir davon ausgehen, dass eine »Diagnose auf Lebenszeit« (z. B. bipolare Störung oder Autismus) tatsächlich ein Leben lang gilt, zumal wenn sie auf unvollständigen Informationen, kurzem Verlauf und in jungen Jahren auftretenden Symptomen beruht.
Der diagnostische Prozess ist kein Schnappschuss, sondern ein ganzer Film. Die Diagnostik darf kein statischer Prozess sein, der den ersten Eindruck einfriert und weiter nichts wahrnimmt. Eine Initialdiagnose ist das, was der Name sagt: ein Anfang; eine Hypothese, die später zusammengetragenen Erfahrungen standhalten muss. Das Beobachten der Symptome ist ein wichtiger Teil der Diagnostik, und deren Entwicklung zeigt sich nun mal erst im Lauf der Zeit. Beobachten Sie also offen und aufmerksam, welchen Verlauf die Symptome nehmen und was dies über die Diagnose aussagt.
Manche Erscheinungsbilder psychiatrischer Symptome scheinen wie aus dem Lehrbuch gegriffen: Es sind klassische Beispiele für die jeweilige Diagnose, die kein erfahrener Kliniker übersieht und die vermutlich auch der diagnostische Laie klar erkennt. Andere wiederum sind weniger offensichtlich, und es braucht beträchtliches klinisches Fachwissen, um ihnen auf die Spur zu kommen. Und wieder andere Erscheinungsbilder sind, zumindest zum gegebenen Zeitpunkt, derart verwirrend, dass niemand sie einordnen kann, auch nicht der begabteste und erfahrenste Diagnostiker. Je prototypischer die Symptome sich zeigen, desto mehr kann man sich auf die Diagnose und entsprechende Behandlung verlassen (allerdings niemals absolut); je verwischter das Erscheinungsbild, desto zaghafter ist die Diagnose, desto individualisierter muss der therapeutische Ansatz sein. Worin die Störung wirklich besteht, bringt oft erst die Zeit ans Licht.
Grundsätzlich gilt es, nach diagnostischer Klarheit zu streben, allerdings darf keine Diagnose über die vorliegenden Anhaltspunkte hinaus herbeigezwungen werden. Mitten im Prozess die Diagnose zu ändern kann verunsichernd sein, aber an einer unzutreffenden Diagnose festzuhalten ist noch viel schädlicher. Sie und Ihr Arzt oder Ihre Ärztin sollten keine Bedenken haben, immer wieder die Probe aufs Exempel zu machen, ob die Diagnose noch stimmt. Und wenn etwas unklar ist, sollten Sie keine übereilten und unzutreffenden Schlüsse ziehen, sondern sich mit Unklarheiten abfinden.
Die Risiken der Selbstdiagnostizierung
Auf dem Weg zum aufgeklärten Konsumenten lauern auch Fallgruben. Das offenkundigste Risiko ist, dass Sie am Ende zum schlecht aufgeklärten Konsumenten werden könnten; die Folge sind mögliche Überdiagnostizierung, Unterdiagnostizierung, Falschdiagnose. Skepsis bezüglich der Selbstdiagnose ist immer angebracht, und es wäre ratsam, sich zudem mit Angehörigen und einem Experten darüber auszutauschen.
Die häufigste Ursache einer Überdiagnostizierung ist die Annahme, man leide unter einer ausgewachsenen psychiatrischen Störung, wenn lediglich ein (oder einige) Symptom(e) aufgetreten ist (sind). Viele Menschen haben, dauerhaft
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