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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
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oder zeitweilig, das eine oder andere Symptom – das ist ganz normal und keine psychiatrische Störung. Bevor Sie sich einreden, Sie seien psychisch krank, denken Sie bitte daran, dass das gesamte Spektrum der Symptome in ausreichend schwerer Form und über einen ausreichend langen Zeitraum auftreten muss.
    Die häufigste Ursache einer Unterdiagnose wiederum ist mangelnde Information. Dieser Umstand lässt sich allerdings am leichtesten beheben – Sie brauchen nur gründlicher zu recherchieren und Ihre möglichen Diagnosen genauer zu prüfen. Größer ist die Hürde, wenn der Grund für eine mangelnde Diagnose in Scham, Leugnung oder einem ungewöhnlich stoischen oder auch pessimistischen Charakter zu suchen ist: Mit solchen Hürden werden Sie womöglich nicht allein fertig und brauchen Hilfe von Angehörigen und ärztlichen Experten.
    Zu einer Fehldiagnose kommt es häufig dann, wenn der Anteil von Alkohol und Drogen am Zustandekommen von Symptomen unterschätzt wird. Vielleicht ist Ihnen der Zusammenhang entgangen oder Sie verdrängen ihn, weil Ihnen die Vorstellung, Ihren Konsum zurückfahren zu müssen, unangenehm ist.
    Der Hintergrund einer Fehldiagnose kann auch sein, wenn Ihnen nicht bewusst ist, dass eine physische Krankheit (oder die Ihnen dagegen verschriebene Medikation) Ursache der psychiatrischen Symptome sein könnte. Als Laie durchschaut man solche Zusammenhänge nicht ohne Weiteres, weshalb es in solchen Situationen auf jeden Fall besser ist, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.
    Das folgende Risiko bei der Selbstdiagnose ist selten, aber potenziell gefährlich: Es kann sein, dass die Suche nach Information sozusagen einer emotionalen Hypochondrie Vorschub leistet. Bedenken Sie bitte, dass die einzelnen Symptome einer psychiatrischen Störung äußerst verbreitet sind und unausweichlich zum Alltag gehören: Gelegentliche Anwandlungen von Panik oder Depression haben wir alle, ebenso Konzentrationsdefizite oder Gedächtnislücken oder unersättlichen Hunger … und so weiter, die Liste der Symptome umfasst Dutzende. Aber in der übergroßen Mehrheit leiden wir deshalb nicht unter einer psychischen Störung. Wenn Sie den Eindruck haben, Sie seien von jeder hier aufgeführten Störung betroffen, so haben Sie wahrscheinlich keine einzige, sondern interpretieren zu viel.
    Und schließlich kann Halbwissen sogar gefährlich sein. Es mag sein, dass Sie Vergnügen daran finden, nicht nur sich selbst ein Etikett anzuheften, sondern auch Angehörigen, Freunden, speziell Ihrem Chef, was wiederum zu unbedachten, ungerechten Äußerungen führen kann, zumal in Auseinandersetzungen. Mit Diagnosen um sich zu werfen kann andere kränken, und womöglich setzt dann ein Teufelskreis der Vergeltungsangriffe ein. Natürlich sind solche Fälle selten – in der großen Mehrzahl ist der Nutzen der Selbstdiagnose weitaus größer als die Gefahr.
    Vorsicht vor Modediagnosen
    Wenn auf einmal jeder Zweite von einer Diagnose betroffen ist oder darüber redet (sei es ADHS , bipolare Störung, posttraumatische Belastungsstörung oder Autismus), sollten Sie von maßloser Übertreibung ausgehen und nicht auf den fahrenden Zug aufspringen. Lassen Sie sich ebenso wenig von den Diagnosen Ihrer Freunde beeinflussen wie von Medienberichten über diagnostizierte Prominente oder neue Krankheiten, von denen angeblich über Nacht Heerscharen ahnungsloser Menschen befallen wurden. Diagnostische Moden kommen und gehen in regelmäßigen Abständen, hinterlassen aber viel Schaden auf ihrem Weg. Skepsis gegenüber der Diagnose des Tages ist immer angebracht.
    Vorsicht vor Pharmawerbung
    Die Pharmaindustrie wird ihr Bestes tun, um Sie in die Irre zu führen, das gehört zu ihrem Geschäft, schließlich will sie Geld verdienen, indem sie ihre Märkte ausweitet und neue Kunden gewinnt. Zwar werden gegen Pharmaunternehmen immer wieder Geldstrafen wegen irreführender Werbung verhängt, aber die Praxis ist so profitabel, dass sie nicht von ihr ablassen. Seien Sie besonders argwöhnisch gegenüber Pharmawerbung, die darauf abzielt, das diagnostische Netz zu erweitern, und dabei oft Personen einfängt, die keinerlei Medikation benötigen. Lassen Sie sich und Ihre Kinder nicht in die Falle locken. Begegnen Sie aggressiver Pharmawerbung mit der gleichen gesunden Skepsis, die Sie gegenüber aufdringlichen Gebrauchtwagenverkäufern an den Tag legen. Und glauben Sie nicht, dass ein Gespräch mit Ihrem Arzt Sie vor wirkungslosen Arzneimitteln schützt –

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