Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
Vom Netzwerk:
zusammenarbeiten, scharf nachdenken und mit ganzem Herzen bei der Sache sind, dann kommt in der Regel auch etwas Gutes heraus.
    Mindys Geschichte, oder: Schizophrenie, die Modediagnose der Sechzigerjahre
    Hier sind zwei parallele Geschichten zu berichten. Geschichte 1: Ein rebellisches junges Mädchen im Gefühlschaos der Pubertät nimmt Drogen, wird irrtümlich als »schizophren« diagnostiziert und landet für zwei entsetzliche Jahre in der Klinik. Geschichte 2: Ein junger Arzt beteiligt sich an der Überdiagnostizierung und schädlichen Behandlung und kommt erst zur Besinnung, nachdem das Mädchen entlassen ist. Die Patientin ist Mindy Lewis. Nach ihrer Befreiung aus dem repressiven Behandlungssystem riss sie sich zusammen und wuchs zu einer wunderbaren Frau und großartigen Schriftstellerin heran. Der junge Arzt, der ihr das Leben schwer machte, war, wie ich gestehen muss, ich.
    Bereits mit fünfzehn war Mindy mit ihrer langen blonden Lockenmähne, ihrem verschmitzten Lächeln, ihrem trotzigen Blick, und ihrem provokanten Auftreten eine eindrucksvolle Erscheinung. Insgeheim aber »war ich extrem verunsichert, gehemmt und selbstkritisch. Ich hielt mich für schlecht, für eine Versagerin, ein schwammiges Wesen ohne Identität und legte mir deshalb eine Fassade zu. Ich kam umso tollkühner und verwegener daher, je mehr ich innerlich das Gefühl hatte, ich existierte nicht.« Mindy war eine chronische Schulschwänzerin und saß stattdessen mit anderen Jugendlichen im Central Park, wo sie allerlei Drogen nahmen. Ihre Mutter konnte nicht begreifen, wie aus ihrem adretten, wohlerzogenen, pferdeschwänzigen kleinen Mädchen eine zottelige, Haschisch rauchende, rastlose Jugendliche hatte werden können, eine Fremde, die entweder schwieg oder fluchte und barfuß durch Greenwich Village lief. Der Krieg zwischen Mutter und Tochter eskalierte. »Meine Mutter war herrschsüchtig, hysterisch und narzisstisch. Sie stellte klar, dass es in ihrer Umgebung nur ein einziges erwachsenes weibliches Wesen geben konnte.«
    Irgendwann wurde es wirklich gefährlich. »Wenn ich nach der Schule in eine leere Wohnung heimkam, trank ich mich durch die Hausbar oder inhalierte Reinigungsmittel. Ich wurde im Treppenhaus ohnmächtig, wo mir harte Burschen Barbiturate gaben und mir die Hände in die Unterhose steckten, um mich ›wiederzubeleben‹; noch Tage später wollte ich vor Scham im Erdboden versinken.« Das Haschischrauchen brachte sie noch mehr durcheinander: »Ich begann mit allen Sinnen zugleich zu denken: Ich konnte meine Gedanken sehen, hören, schmecken und fühlen. Sie waren nicht immer angenehm. Häufig klagten sie mich an: Du bist hässlich, dumm, feige, eine Memme, ein Baby, eine Lügnerin, kein richtiger Mensch.«
    Mindy suchte einen Psychiater auf, aber ihre Gespräche führten nirgendwohin. »Am Ende schluckte ich eine Handvoll Aspirin, praktisch als Mutprobe.« Ihre Mutter ließ Mindy in die geschlossene Abteilung der berühmten psychiatrischen Klinik des Staates New York einweisen. Die Folge war eine Langzeittherapie aufgrund einer völlig falschen Diagnose. Zufällig war der Klinikleiter der namhafte Miterfinder des Begriffs »pseudoneurotische Schizophrenie«. Allein die Idee war hirnrissig: Die »innere Schizophrenie« wird »aufgedeckt« und identifiziert, obwohl keine typischen Symptome vorliegen, sondern der Patient einfach exzentrisch ist und der Arzt ein in den Methoden des Direktors geschulter »erfahrener Diagnostiker«. Die ganze Sache war faul, aber in den Sechzigerjahren war diese Diagnose weithin akzeptiert. Ich war ein junger, dummer Arzt, und ich glaubte sie.
    Mindy durchlief das Horrorszenario, das sich damals Behandlung nannte, und ich gehörte zu der Gruppe, die sie durchführte. »Drei Mal täglich standen wir um Medikamente an, und ich erhielt Thorazine, das Standardmittel gegen Psychosen. Wenn ich die Tablette in der Wange zu verstecken versuchte, musste ich mir von der Schwester in den Mund schauen lassen und erhielt statt der Pille eine bittere Flüssigkeit. Die Wirkung blieb dieselbe: Das Zeug nagelte einen auf dem erstbesten Möbel fest, raubte einem sämtliche Lebensgeister, trocknete den Mund aus und füllte den Kopf mit Verzweiflung. Jedes Mal, wenn ich die Pille schluckte, wünschte ich den Ärzten dieselbe abtötende Wirkung an den Hals.« Das therapeutische Milieu war alles andere als therapeutisch: »Wenn man nicht von Haus aus depressiv war, wurde man es hier: Man konnte nichts tun als

Weitere Kostenlose Bücher