Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Antipsychiatriebewegung, die weltweit nicht wenige Anhänger zählt. Die Psychiatrie muss aus ihren Fehlern lernen und die oft wohlverdienten Angriffe ihrer Kritiker sehr ernst nehmen.
Aber meiner Ansicht nach ist der monolithische Widerstand gegen die Psychiatrie eine viel zu wahllos gefeuerte Breitseite. Tatsächlich scheint mir beides unmöglich – man kann ebenso wenig ein enthusiastisch unkritischer Anhänger der Psychiatrie sein wie ein leidenschaftlicher Bilderstürmer, der alle ihre Leistungen in Abrede stellt. In dieser extremen Einseitigkeit gehen beide Haltungen an der Wahrheit vorbei. Während meiner Laufbahn als Psychiater bin ich vielen Hundert Patienten begegnet, die zweifellos Opfer der Psychiatrie waren. Schon die ersten einschlägigen Erlebnisse vor dreißig Jahren veranlassten mich, einen Artikel mit dem hippokratischen Titel Keine Behandlung als die Behandlung der Wahl ( No Treatment As The Prescription Of Choice ) zu veröffentlichen.
Jeder verantwortungsbewusste Mensch muss schlecht ausgeübte und ihre Kompetenz überschreitende Psychiatrie kritisieren (und der Kritik anderer beipflichten). Aber bedenken Sie bitte, dass die im Folgenden dargestellten diagnostischen Fehler in keiner Weise repräsentativ für die Praxis der Psychiatrie sind. Die ausgewählten Fallbeispiele lesen Sie hier deshalb, weil sie den Extremfall diagnostischer Inkompetenz und aberwitziger Therapieentscheidungen veranschaulichen. Die Antipsychiatriebewegung, die » GAU s« dieser Sorte verallgemeinert, schießt allerdings weit übers Ziel hinaus, denn sie verdammt die gesamte Psychiatrie in Bausch und Bogen. Ihr Extremismus geht zulasten jener, die eine Behandlung wirklich benötigen und sehr davon profitieren können: Das nächste Kapitel zeigt, wie es sein kann, wenn es für den Patienten gut ausgeht – wie meistens.
Für jeden Patienten, dem die Begegnung mit der Psychiatrie geschadet hat, kann ich zehn anführen, deren Leben sich drastisch verbessert hat; in manchen Fällen wurde es wahrscheinlich gerettet. Neulich erlebte ich das seltsame Zusammentreffen zweier Mails, deren Absender mir unabhängig voneinander, aber zeitgleich die fast identische Frage stellten, wie ich es fertigbrächte, nach wie vor auf die Psychiatrie zu schwören, während ich manchen ihrer neueren Trends so kritisch gegenüberstünde und die schädlichen Auswirkungen des DSM -5 verurteilte. Das ließ und lässt sich leicht beantworten: Zum Glück hat unser Fachgebiet überaus wirksame Therapien anzubieten (zu denen ich das breite Spektrum der Psychotherapien ebenso zähle wie die medikamentösen Behandlungsformen), mit denen wir exzellente Ergebnisse erzielen – damit sind wir den meisten anderen Gebieten der Medizin überlegen. Eine Mehrzahl unserer Patienten erlebt dank unserer Intervention entscheidende Verbesserungen; eine substanzielle Minderheit wird wieder vollkommen gesund; manche kommen nicht vom Fleck; nur wenigen geht es schlechter. Als Psychiater heilen wir, wann immer wir können, und wenn wir nicht heilen können, begegnen wir unseren Patienten mit Mitgefühl, Verständnis und Trost. Wir können gut zuhören, nehmen Anteil an ihrem Schicksal und nutzen unsere Erfahrung und unsere Persönlichkeit, um andere auf ihrer Reise zu Heilung, Anpassung und Selbsthilfe zu begleiten.
Ordnungsgemäß praktiziert, ist die Psychiatrie eine immerwährende Freude und eine nützliche und überaus befriedigende Kunst. Schlecht ausgeübte Psychiatrie ist eine gefährliche Form der Quacksalberei. In die Irre gehen wir, wenn wir mehr versprechen, als wir halten können, wenn wir überdiagnostizieren und übertherapieren. Von den ungezählten Problemen des Lebens sind bei Weitem nicht alle psychiatrische Krankheiten, und nicht alle psychischen Störungen sind »chemisches Ungleichgewicht« oder lassen sich durch Tabletten beseitigen. Das Eingeständnis, dass wir die Ursachen psychischer Erkrankungen nach wie vor nicht kennen, ist keine Schande – die anderen Fachgebiete der Medizin haben es mit wesentlich weniger komplizierten Organen zu tun als dem Gehirn, aber auch bei den meisten körperlichen Krankheiten liegt die Ursache im Dunkeln. Obwohl wir allgemeine Richtlinien haben, die uns bei den Therapieentscheidungen eine wichtige Hilfe sind, ist jeder Mensch einzigartig, und deshalb muss jede Therapieform auch mit Versuch und Irrtum experimentieren, um den Bedürfnissen der jeweiligen Person gerecht zu werden. Wenn Patient und Psychiater
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