Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Zwei-Wort-Sätze bildete, aber seine übervorsichtigen Eltern entschieden sich sicherheitshalber, dem ärztlichen Rat zu folgen und den Termin wahrzunehmen. Weiterer großer Fehler. Todd schlief nicht während der Fahrt, und seine Gereiztheit bei der Ankunft nahm zu, als ihm das Personal sein Lieblingsspielzeug wegnahm, »damit er nicht abgelenkt« wäre; weinend wurde er zu stundenlangen Tests mitgenommen. Er war nie im Kindergarten gewesen und war es nicht gewohnt, von seinen Eltern getrennt zu sein. Stunden später kam er müde, unglücklich und kaum ansprechbar zurück.
Die Testergebnisse waren verheerend. Nun hatte Tod schwerwiegende Verzögerungen auf allen Gebieten: im Sprachverständnis und in der Sprechfähigkeit, der Feinmotorik, der Kognition, der Adaption und sogar in der Grobmotorik (obwohl er sehr früh begonnen hatte zu krabbeln, zu laufen und zu klettern). Er hatte noch weniger Punkte erzielt als mit fünfzehn Monaten. Die Diagnose: klassischer Autismus. Die Prognose: düster. Todds Zustand könnte sich weiter verschlechtern, hieß es, er könnte sein mageres Sprachvermögen wieder einbüßen, nie eine normale Schule besuchen, womöglich niemals ein selbstständiges Leben führen. Der ärztliche Rat lautete, die Eltern sollten ihre Stellen aufgeben, um mit Todd in die Nähe eines Zentrums zu ziehen, wo er für 75 000 Dollar jährlich vierzig Stunden in der Woche eine Sonderbetreuung erhielte. Sie bekamen detaillierte Anweisungen für den Antrag auf Kostenübernahme durch den Staat.
»Ich war mir sicher, dass die Ergebnisse und die Diagnose nicht stimmten – sie beschrieben ein anderes Kind. Die Gutachter argumentierten, sie hätten langjährige Erfahrung, sie seien die Experten und wir die, die es einfach nicht wahrhaben wollten. Ich wies sie darauf hin, dass Todd zu Hause viel mehr könne, und bekam die Antwort, wer eine Fähigkeit beherrsche, könne sie in jeder Umgebung anwenden. Ich wollte natürlich Todd keine Hilfe verweigern, nur weil wir verdrängten, wie es angeblich um ihn stand, und nahm die Ergebnisse dann doch ernst – trotzdem konnte ich nichts mit ihnen anfangen, denn sie beschrieben meinen Sohn nicht.«
Todds Eltern sind Professoren; sie begannen sich kundig zu machen und erfuhren, dass Kinder in einer gemütlichen Umgebung und in entspanntem Zustand getestet werden sollten – nicht wenn sie reizbar, übernächtigt und von den Eltern getrennt sind. Ein paar Monate später wurde Todd in einem anderen Zentrum erneut getestet, und jetzt waren die Ergebnisse in allen Punkten normal, außer in seiner rezeptiven Sprachfähigkeit; dort waren sie grenzwertig. Woher der große Unterschied? Die neuen Tests waren viel weniger belastend für das Kind, weil die Mutter anwesend war und ihn beruhigte. Im Alter von drei Jahren erzielte Todd auf jedem Gebiet normale Ergebnisse. Mit fünf hatte er die Vorschule erfolgreich hinter sich gebracht und bestand den Eignungstest seines Schulbezirks mit dem Kommentar, es bestehe kein Grund zu der Annahme, er werde Schwierigkeiten in der Schule haben.
Wie kam es, dass die erste Expertengruppe sich dermaßen irrte? »Ich dachte immer, dass eine Therapie doch das Beste wäre, falls tatsächlich ein Problem bestand, aber es kann ziemlich schwierig sein, den Begutachtungsprozess von den Anforderungen für besondere Betreuung zu trennen. Die Gutachter, die meinen Sohn unter so erschwerten Bedingungen testeten, waren wirklich überzeugt, dass sie uns halfen und das Beste für ihn taten; sie wollten dafür sorgen, dass er das Maximum an Förderung bekäme, damit er sich so normal wie möglich entwickelte. Ich fände es besser, wenn diese spezielle Förderung von den Bedürfnissen des einzelnen Kindes abhinge statt von einem irreführenden Etikett und einer Reihe von Standardempfehlungen. Um das Beste für unseren Sohn zu tun, mussten wir bestimmte Programme auswählen und andere ablehnen.«
»Experten«, deren Expertentum darin bestand, beim geringsten Anzeichen einer sozialen oder sprachlichen Blockade Autismus zu identifizieren, hatten Todds Eltern zu Unrecht in Angst und Schrecken versetzt. Viel besseren Rat erhielten sie von einem anderen, vertrauenswürdigeren Experten, der weiß, dass die Entwicklung von Individuum zu Individuum unterschiedlich verläuft. »Das ist wie bei den Zähnen: Die längste Zeit war es völlig in Ordnung, nicht ganz perfekte Zähne zu haben, solang sie nur gesund waren; heutzutage müssen sie alle gerade und strahlend weiß
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