Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
völlig abgestumpft und in Anstaltspyjamas auf der Station herumsitzen und Zigaretten rauchen, war immer im Haus eingesperrt und wurde fett von der stärkehaltigen Krankenhauskost und den Medikamenten. Um diese Eintönigkeit zu durchbrechen, liefen wir die Flure auf und ab, spielten Tischtennis, schmuggelten Drogen und trugen unsere Anstaltspyjamas zwecks gegenseitiger sexueller Erkundung halb offen.«
Während wir Ärzte uns einbildeten, wir »analysierten die Übertragung« und verhälfen den Patienten zu grandiosen Erkenntnissen und einer »korrigierenden emotionalen Erfahrung«, erlebte Mindy es anders. »Für die jungen Mädchen war jede Sitzung mit dem Psychiater eine Gelegenheit, die zum Flirten genutzt wurde. Ich ließ mein Pyjamaoberteil offen, parfümierte mich mit Patschuliöl und versuchte mich so abgedreht und interessant wie möglich aufzuführen. Krankheit war hier die Währung, die einem Aufmerksamkeit eintrug. Alles, was ich sagte oder tat, galt als Symptom; jede flüchtige Stimmung gab Anlass zur Sorge. Ich war die Darstellerin und Regisseurin meines privaten Dramas; gleichzeitig versuchte ich, den Teil von mir zu finden, von dem ich wusste, dass er okay war, aber mein gesundes Ich war eine ferne Erinnerung. Vielleicht hatten die Ärzte doch recht, und mit mir stimmte etwas grundsätzlich nicht.«
Gerettet wurde Mindy von Mrs. Gould, der wunderbaren Englischlehrerin, die den Schulunterricht leitete und eine der wenigen vernünftigen Personen in der geschlossenen Abteilung war. »Sie sah mich nicht als Patientin, sondern als Menschen. Bei ihr entdeckten wir einen Lebenssinn in der gemeinsamen Beschäftigung mit Literatur. Aber was uns vor allem rettete, war ihr unbedingtes Engagement für uns, ihre ›großartigen Kinder‹, und ihr Glaube an unsere geistige Gesundheit und Intelligenz, unseren Geist. Zwar fiel sie den Ärzten niemals direkt in den Rücken, aber sie stand immer auf unserer Seite, während von der übrigen Belegschaft keinerlei Verständnis kam.«
Glück hatte Mindy mit ihrem zweiten Arzt, »der selber mit seiner Schüchternheit zu kämpfen hatte und mir mit viel Einfühlungsvermögen entgegenkam. Er hatte Verständnis für mein geringes Selbstwertgefühl, und wir begannen gemeinsam auf mehr Erleichterungen hinzuarbeiten. Als ich, wie nicht anders zu erwarten, einen Rückfall hatte und Ärger bekam, setzte sich Dr. R. sehr für mich ein, damit ich noch eine Chance bekäme. Sein Vertrauen half mir, und ich schaffte es, nach und nach meine Privilegien zurückzubekommen, und schließlich kam ich aus dem Krankenhaus frei.«
Mindy überwand spätere Rückschläge und baute sich ein glückliches, erfolgreiches Leben als Grafikdesignerin auf. Später entdeckte sie ihren schriftstellerischen Ehrgeiz und verfasste zwei Bücher, Life Inside: A Memoir (Washington Square Press 2003) und Dirt: The Quirks, Habits, and Passions of Keeping House (www.mindylewis.com). Heute gibt sie Kurse und veranstaltet Workshops in New York City. Sie ist keine Spur schizophren und war es nie. Durch sie habe ich zwei wichtige Lektionen gelernt. Zum einen hatte sie die seelische Größe, mir meine idiotische Kollaboration bei ihrer psychiatrischen Gefangenschaft zu verzeihen. Und zum anderen lehrte sie mich, nicht nur nach scheinbar Krankem zu suchen, sondern immer auch das zu sehen, was an einem Menschen grundsätzlich normal ist. Auf je unterschiedliche Weise haben wir es beide geschafft, über das Kuckucksnest zu fliegen.
Todds Geschichte: Die heutige Modediagnose Autismus
Mit fünfzehn Monaten war Todd ein fröhliches, umgängliches, in jeder Hinsicht normales Kind – nur dass es noch nicht sprach. Aus einer Überreaktion heraus schickte ihn seine Kinderärztin zu einer weiteren Untersuchung, was ein großer Fehler war. Die Tests ergaben eine »schwerwiegende« Verzögerung sowohl beim aktiven wie beim passiven Spracherwerb und brachten die Vermutung Autismus oder geistige Retardierung ins Gespräch. »Von einer Sekunde auf die andere sahen wir unseren Sohn nicht mehr als normales, fröhliches Kind, sondern hatten entsetzliche Angst um ihn.«
Mit zwei Jahren sprach er erste Wörter, bildete aber noch keine Zwei-Wort-Sätze. Autismus war die Modediagnose der Zeit, und die Kinderärztin überreagierte abermals und überwies Todd zu einer noch aufwendigeren »fachübergreifenden Begutachtung« in einem hoch spezialisierten Zentrum drei Autostunden entfernt. Zu erwähnen ist, dass Todd unterdessen
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