Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
sein.«
Die Diagnose Autismus hatte, obwohl sie bald wieder verworfen wurde, dennoch negative Folgen, die über die anfänglichen Ängste hinaus bestanden: »Es gibt immer noch Leute, die meinem Sohn mit Vorurteilen begegnen und vorsichtshalber nichts von ihm erwarten, die sich wundern, dass er überhaupt sprechen kann und in der Schule gut zurechtkommt. Manche akzeptieren die zweite Meinung einfach nicht und erteilen uns ständig Ratschläge, als stünde er vor gewaltigen Hürden, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt, z. B. empfehlen sie uns bestimmte Therapien, besondere Ernährungsweisen, Spezialcamps, oder sie finden, wir sollten uns um staatliche Förderkurse bewerben, für die er gar nicht infrage kommt, Kommunikationshilfsmittel beschaffen, die unnötig sind, Therapien für nicht vorhandene Probleme der Sinnesorgane machen etc. Selbst Leute, die alles mitbekommen haben, was damals passiert ist, reden mit Todd, als wäre er nicht ganz in Ordnung, weil sie einfach nicht wahrhaben wollen, dass er völlig normal mit ihnen kommunizieren kann. Wieder andere wollen uns trösten und erzählen von irgendwelchen Wissenschaftlern oder Ingenieuren, die sie kennen, und sagen, Todd würde sicher auch so einer. Bei solchen Kommentaren frage ich mich, ob es wirklich notwendig ist, Leute, die ganz normal funktionieren und erfolgreich sind, mit Diagnosen zu behelligen.«
Susans Geschichte: Die Modediagnose bipolare Störung
Susan ist einunddreißig Jahre alt, glücklich verheiratet, Mutter zweier kleiner Söhne, eine Mittelschullehrerin, die gern wandert, Kanu und Ski fährt. Bis zu ihrem ersten Kind war sie völlig normal, und sie ist jetzt auch wieder völlig normal. »Ich wollte immer Kinder haben – eigene und adoptierte. Aber nie hätte ich mir vorgestellt, dass es mir derart schwerfällt, Mutter zu sein.« Eric, der erste Sohn, schrie sechs Monate lang ununterbrochen und ließ sich nicht trösten. Susan bemühte sich Tag und Nacht ihn zu beschwichtigen, aber nichts half. »Ich war total verunsichert, fühlte mich der Aufgabe nicht gewachsen – ich dachte, wie kann ich so viele Kinder haben wollen, wenn ich nicht mal in der Lage bin, dieses eine zu beruhigen? Ich war ganz und gar nicht die kompetente, souveräne Mutter, als die ich mich gesehen hatte.«
Der Kinderarzt riet ihr schließlich: »Lassen Sie ihn schreien.« Nach einer grauenhaften Woche trug die Methode Früchte, und Eric schlief nachts durch. Aber Susan fühlte sich nach wie vor erbärmlich und konnte nicht schlafen: »Ich weiß nicht, ob ich mich vorher für meinen Sohn zusammengenommen hatte oder ob das dauernde Wachbleiben meinen Schlafrhythmus gestört hatte, jedenfalls war ich völlig ausgebrannt, weil ich einfach nicht mehr schlafen konnte.« Sie hielt sich an sämtliche Regeln der Schlafhygiene – kein Koffein, bewusste Ernährung, viel Bewegung tagsüber, entspannende abendliche Routine – und dennoch war sie aus dem Tritt. Aus Sorge, es könnte eine postnatale Depression sein, ging Susan zu einem Allgemeinarzt, der ihr – innerhalb von fünf Wochen – Prozac, Xanax, Ambien und Lunesta verschrieb. Der Medikamentencocktail machte alles noch viel schlimmer. »Ich weiß noch, wie ich mich weinend von Eric verabschiedete – nicht weil ich mich umbringen wollte, sondern weil ich dachte, ich sterbe.«
Susan wollte nun zu einer Psychiaterin. »Am Ende der Sitzung sagte Dr. A. sehr lässig: ›Meiner Einschätzung nach sind Sie bipolar.‹ Ich war geschockt und fing zu weinen an. Dr. A. begründete ihre Diagnose folgendermaßen: Mit Antidepressiva wurde es schlimmer, ich konnte gar nicht mehr schlafen, in meiner Familie gab es gewisse Hinweise auf manisch-depressive Störungen. Sie verschrieb mir zwei atypische Neuroleptika: Abilify und Seroquel.«
Susans Angehörige und Freunde trauten ihren Ohren nicht, als sie die Diagnose hörten, die all ihren Erfahrungen widersprach – niemals hatten sie an Susan das geringste Anzeichen einer bipolaren Störung wahrgenommen. Susan las Bücher und studierte Webseiten. Auch sie erkannte sich in der Diagnose nicht wieder. »Sie passte überhaupt nicht zu mir, aber ich vertraute der Ärztin.«
Das hätte sie besser nicht getan. Die Ärztin meinte es sicher gut, aber sie lag völlig falsch – ihr Schuss aus der Hüfte war weit danebengegangen. Wie in den Sechzigerjahren »Schizophrenie« die Lieblingsdiagnose der Psychiatrie gewesen war, so ist in letzter Zeit die bipolare Störung als Modediagnose
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