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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
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sie mit mir zu Dr.   Y., einem Experten für kindliche Verhaltensstörungen und bipolare Störungen an einer berühmten Uni.«
    Nach einem sehr kurzen Gespräch verschrieb Dr.   Y. Zoloft. »Es begann ein bizarrer Teufelskreis, der mich heute noch wütend macht – unfassbar, dass ein Spitzenpsychiater einem Kind derart sinnlos traumatische Erfahrungen zumutet. Das Ritalin, mit dem die ADHS bekämpft werden sollte, verursachte eine Depression – deshalb verschrieben sie Zoloft, und das machte die ADHS schlimmer. Statt Zoloft abzusetzen oder was anderes zu versuchen, wurde die Ritalin-Dosis erhöht, und das verursachte noch schlimmere Depressionen, weshalb auch die Zoloft-Dosis gesteigert wurde.«
    Dieser aberwitzige Versuch, Nebenwirkungen durch höher dosierte Medikation zu bekämpfen, führte dazu, dass Liz’ Verhalten zunehmend sprunghaft, unbändig, wild wurde. »Ich sprang aus dem Auto, wenn meine Mutter von der Zufahrt in die Straße einbog. Ich zerbrach ein Glas und wollte über die Scherben laufen. Das war nicht ich – nie hatte ich mich derart geistesgestört verhalten, weder vorher noch seitdem. Aber damals war ich erst sieben, und diese zwei Psychopharmaka in hoher Dosierung waren einfach zu viel für mich.«
    Auf Dr.   Y.s Rat hin wurde Liz von der Schule genommen und in eine Tagesbetreuung gegeben, die ein Albtraum war. Auf ihr medikamenteninduziertes Trotzverhalten reagierte man dort mit Bestrafung, was sie noch trotziger machte. »Meine lebhafteste Erinnerung ist, wie ich schreiend und um mich schlagend in einen kleinen weißen, abgesperrten Raum mit gepolsterten Wänden gezerrt wurde. Wenn ich mich vorher noch nicht verrückt gefühlt hatte, dann war’s jetzt definitiv so weit.«
    Nach ein paar Tagen griffen zum Glück Liz’ Eltern ein, retteten sie aus der Tagesbetreuung, setzten die Medikamente ab und schickten sie wieder in die Schule. Ihr Verhalten besserte sich, aber die Kämpfe mit ihren Eltern um Hausaufgaben und Disziplin hielten an und wurden mit Beginn der Pubertät sogar schlimmer. Wieder wurde Dr.   Y. konsultiert – sein landesweiter Ruhm überwog alle Zweifel, die seine frühere Intervention hätte wecken können. Die neue Diagnose lautete »bipolares Spektrum im Kindesalter«, eine von Dr.   Y. und seinen Kollegen an jener berühmten Universität ausgeheckte und unters Volk gebrachte Erfindung. Neuroleptika könnten helfen, hieß es, und dem Mädchen wurde nicht eines, sondern gleich eine Zweierkombination verschrieben. Zum Glück brachten es die Eltern nicht über sich, ihr abermals Psychopharmaka zu geben, außerdem weigerte sich Liz, noch irgendwelche Medikamente einzunehmen.
    »Zwar hatte ich nach wie vor ziemlich regelmäßig Krach mit meinen Eltern und den Lehrern, aber ich hatte auch ziemlich viele Freunde, und ich bekam gute Noten. Als ich in die Highschool kam, war ich ein launischer Teenager, der sich von der Welt unverstanden fühlte, ungefähr so wie die meisten in diesem Alter. Ich belegte Zusatzfächer und brach dann unter dem Berg Arbeit, den ich mir aufgehalst hatte, fast zusammen. Meine Schwierigkeiten in der Schule und der Druck, unter den ich mich selber setzte, machten mich ziemlich unglücklich. Nach endlosen Debatten überredete mich meine Mutter, Dr.   Y. noch mal aufzusuchen.«
    Es war ein weiterer unseliger Triumph unangebrachten Vertrauens über negative Erfahrungen. Innerhalb von Minuten empfahl Dr.   Y. mit Begeisterung zwei neue Medikamente. »Ich hatte aber mit Psychopharmaka zu viel Schlimmes erlebt und nahm keine mehr. Nachdem ich die Highschool abgeschlossen hatte und von zu Hause auszog, musste ich nie wieder so kämpfen wie früher. Meine Probleme als Kind hätten nicht so schlimm sein müssen. Wenn nur nicht alles so strukturiert und starr hätte sein müssen – da passte ich einfach nicht hinein. Ich zweifle nicht, dass ich ADS habe, aber ich kann damit leben. Die seelischen Wunden, die mir Ärzte mit dem Versuch, meine wachsenden Probleme mit Medikamenten zu kurieren, zugefügt haben, werden vielleicht für immer bleiben. Als ich jung war und noch in der Entwicklung, gaben sie mir das Gefühl, nicht normal zu sein. Dass ich diese Erfahrungen überwand und ein erfülltes und ›normales‹ Leben führen kann – was immer das sein soll –, verdanke ich ironischerweise genau der Sturheit, die sie mir auszutreiben versuchten.«
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