Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
wurde aufgeräumt, seine letzte Hausaufgabe lag halb fertig auf dem Schreibtisch. Beide dachten ununterbrochen an ihn, und beide wagten nicht über ihn zu reden oder zu weinen oder den eigenen Schmerz offen zu äußern, um nur ja nicht den/die andere/n aufzuregen. »Wir waren beide wie scheintot. Wir führten pro forma unser Leben, aber wie betäubt und ohne Anteilnahme. Wir lebten uns auseinander und machten uns Vorwürfe, jeder sich und wir uns gegenseitig. Annie hatten wir beide nicht viel zu geben – unser Herz war gebrochen, unser Hirn in Aufruhr, der Tank leer.«
Beide Eltern gaben sich nach außen hin stoisch, während es innerlich brodelte – nachts vor Albträumen und tags vor dauernden Flashbacks von Max’ leblosem, zerfleischtem Körper. Aus Furcht, er könnte abermals die Kontrolle verlieren und einen zweiten Menschen umbringen, konnte Paul nicht mehr Auto fahren. Beide mieden Fahrten, wo es nur ging; andernfalls saßen sie in Todesangst im Auto. Noch ein Jahr nach dem Unfall zuckten sie beim Klang einer Hupe, dem Anflug eines Schleuderns, einer jähen Beschleunigung zusammen und erbleichten. Sie hatten Konzentrationsschwierigkeiten, waren appetitlos, schliefen schlecht; beide waren reizbar, lebten unter einer Wolke, gingen wie auf Eiern.
Annie war wortkarg und zurückgezogen und weinte in unregelmäßigen Abständen, aber sie war psychologisch weit weniger beschädigt als ihre Eltern. Ihr Bruder fehlte ihr und tat ihr grenzenlos leid, wie ihre Eltern ihr leidtaten, aber sie hatte keine Erinnerung an den Augenblick des Unfalls und war besser in der Lage, ihr früheres Leben mit Schule und Freundschaften wieder aufzunehmen. Paul und Janet hingegen sagten: »Unser Leben hörte auf, als Max starb. Es hätte uns treffen sollen, nicht ihn. Er hatte das ganze Leben noch vor sich. Für uns hat das Leben keinen Sinn mehr. Was für eine kriminell idiotische Idee, Skiurlaub zu machen und durch völlig unbekanntes Gelände zu fahren.«
Paul ist Kardiologe, Janet OP -Schwester. Es dauerte vier Monate, bis er körperlich und seelisch so weit war, dass er wieder arbeiten konnte; bei Janet waren es drei Monate. Die Arbeit war für beide eine Rettung und das Krankenhaus der einzige Ort, an dem sie halbwegs normal funktionierten. Aber Janet bekam Panikattacken, wenn sie mit Notfällen zu tun hatte, und musste sich auf chirurgische Routineeingriffe beschränken. Und Paul sah sich außerstande, Jugendliche zu operieren.
»Keiner von uns wollte psychiatrische Hilfe, aber wir wussten beide, dass wir sie brauchten. Unser Hausarzt bemühte sich nach Kräften, aber die Antidepressiva und Schlafmittel halfen nicht. Der Psychiater sagte, wir würden über die Trauer um Max niemals hinwegkommen, aber wir könnten und müssten einen Weg finden, um weiterzuleben und nach vorn zu schauen; wir seien es Annie, dem Andenken von Max und einander schuldig, die Therapie auf uns zu nehmen, und sei sie noch so schwer. Wir müssten uns dem Schmerz über den Verlust unseres Sohns stellen und ihn miteinander aushalten – keine Verdrängung von Gefühlen mehr, keine heimliche Trauer. Wir müssten alle unsere Erinnerungen an ihn austauschen, und am Ende müssten wir sein Zimmer ausräumen und damit seinen Tod akzeptieren.
Wir begriffen, dass wir Max in Erinnerung behalten konnten, ohne dass wir versuchten, die Uhr anzuhalten oder seinen Tod zu leugnen. Der Psychiater sagte, wir müssten uns auch dem Horror des Unfalls stellen und nicht länger wegschauen. Das hieß: darüber reden, die schrecklichen Fotos ansehen, wieder mit dem Autofahren anfangen. Die Therapie war eine schreckliche, qualvolle Erfahrung, aber sie gab uns – nein, nicht alles, aber einen großen Teil unseres früheren Ichs und unseres Lebens zurück, und sie machte uns so frei, dass wir einander wieder lieben und Annie Eltern sein konnten.«
Es gibt keine Medizin gegen Trauer, und die Arzneimittel gegen posttraumatische Belastungsstörungen sind nicht besonders wirksam; manchmal verursachen sie ihrerseits Probleme. Jeder hat seine Art zu trauern und mit katastrophalen Erfahrungen umzugehen. Für viele ist der langfristig beste Weg erst einmal der schmerzhafteste: Man muss sich erst den entsetzlichen Erinnerungen und den quälenden Gefühlen stellen, muss sich mit dem traumatischen Ereignis auseinandersetzen, ehe man es akzeptieren und verarbeiten kann, denn Verdrängung versperrt den Weg zum Seelenfrieden. Die Verarbeitung kann mithilfe von Angehörigen und Freunden
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