Northanger Abbey
den Boden der Tatsachen zurückholen – so entpuppt sich ein vermeintliches Manuskript als Wäschereirechnung –, ist sie schließlich überzeugt, in General Tilney die dunkle Gestalt eines gewissenlosen Schurken vor sich zu haben, der seine Frau mißhandelt und ermordet hat.
Endgültig verabschieden von ihren romanhaften Fehldeutungen der Realität muß sich Catherine nach einem heimlichen Besuch in den Räumlichkeiten der vermeintlich Ermordeten. So wie die Sonne das modern eingerichtete, gepflegte Schlafzimmer freundlich erleuchtet, so erhellt einStrahl gesunden Menschenverstandes plötzlich Catherines Gemüt. Sie schämt sich ihrer Verdächtigungen, um so mehr als sie gleich darauf von Henry Tilney überrascht wird. Dieser durchschaut ohne weiteres, was Catherine in einen Teil des Hauses führt, in dem sie eigentlich nichts zu suchen hat, und mahnt sie zu einem genaueren, nüchterneren Blick auf die Wirklichkeit (Zweites Buch, Kapitel IX). Die Realität laut Henry Tilney ist das genaue Gegenteil der Welt des Schauerromans, in der als einziges Gesetz die verbrecherischen Triebe finsterer Schurkengestalten herrschen; sie ist banal und verläßlich geregelt. Der Moment, in dem Catherine sich zu Henrys adäquaterer Sicht der Wirklichkeit bekehren muß, wird als läuterndes Erwachen dargestellt, als Abschied von Täuschung und Irrtum, als Neubeginn im Sinne »gesunden Menschenverstands« (Zweites Buch, Kapitel IX).
Austens Erneuerung des Romans besteht also zunächst einmal darin, daß sie – mit großem komischen Effekt – die durch Lektüre irregeführte Imagination und den falschen Horror des Schauerromans hinauswirft und statt dessen die Vernunft und die banale Realität hereinläßt. Aber ihr Blick – der Blick der Ironikerin – auf die Realität ist nicht so simpel. Und so läßt sie denn den
gothic horror
, soeben noch als unrealistisch verlacht, sozusagen zur Hintertür des Romans und in neuem Gewande wieder herein.
Am vielleicht offensichtlichsten geschieht dies in der Gestalt General Tilneys, dem Catherine, das wird bald klar, mit ihren Verdächtigungen gar nicht so furchtbar unrecht tut. Der General wirbt um Catherine, solange er ihre Familie für wohlhabend und sie für die designierte Alleinerbin des reichen Mr. Allen hält. In dem Moment aber, als er seinen Irrtum erkennt, setzt er sie kurzerhand vor die Tür. Eine Siebzehnjährige allein und ohne Geld auf eine weite Reise zu schicken ist zwar nicht gleichermaßen kriminell wie eine Ehefrau zu ermorden, das Verhalten des Generals bietet aber doch Anlaß zu echtem, berechtigtem Gruseln. Gruselig – undnicht weniger gruselig ob ihrer Banalität – sind die egoistische Fixiertheit des Generals auf finanzielle Interessen und die Kaltblütigkeit, mit der er die unerfahrene Catherine realer Gefahr aussetzt. Nicht einmal auf bloße gesellschaftliche Form meint er dabei Rücksicht nehmen zu müssen.
Und nicht nur Catherine opfert General Tilney seinen persönlichen Interessen. Auch in seiner Eigenschaft als Landbesitzer stellt er sein eigenes Wohl über das der anderen, namentlich das seiner Pächter. Dies signalisiert Austen äußerst subtil in der Passage, die Catherines Rundgang durch Park und Gärten von Northanger Abbey schildert. Catherine ist überwältigt von der Größe der Anlagen, in denen »eine ganze Gemeinde« an der Arbeit zu sein scheint und die ein »Dorf von Gewächshäusern« enthalten (S. 196). Der General kommentiert, daß er gutes Obst liebe, und bedauert, daß er im letzten Jahr nicht mehr als hundert Ananas habe ernten können. Diese an der Oberfläche unschuldig wirkende Passage nimmt bedrohliche Untertöne an, liest man sie im historischen Kontext der 1790er Jahre. Ideologisch geprägt sind diese Jahre durch das paternalistische Ideal der englischen
landed gentry
, dem zufolge ein Landbesitzer für das Wohl der von ihm abhängigen Pächter und Gemeinde Verantwortung zu tragen hat. Sein verantwortungsvolles Verhalten ist Garant für die Stabilität und den Fortbestand der ganzen Gesellschaft, sein Versagen birgt große Gefahr – ein Blick ins Nachbarland Frankreich zeigt, wie ernst die Möglichkeit einer blutigen Revolution zu nehmen ist. Und nicht nur in Frankreich spielt sich Bedrohliches ab. Auch in England sind die 1790er Jahre geprägt von immer wieder auflodernden Unruhen, vor allem wegen Kornknappheit und der Höhe des Weizenpreises. Am 29. Oktober 1795 wird deshalb sogar die Kutsche des Königs auf ihrem Weg ins
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