Northanger Abbey
Grausamkeit – galt es noch aufzudecken.
Während sie sich bettfertig machte und über diese Dinge nachsann, wurde ihr schlagartig klar, daß sie heute höchstwahrscheinlich ganz dicht an dem Ort vorbeigegangen war, an dem die Unglückliche gefangen saß – daß vielleicht nur wenige Schritte sie von der Zelle, in der sie schmachtete, getrennt hatten; denn welcher Teil der Abtei eignete sich mehr für den Zweck als jener, der noch die Spuren mönchischer Abtrennung trug? Wie gut waren ihr in dem hohen, steingefliesten Kreuzgang, in dem sie die Füße ohnehin schon voll Ehrfurcht gesetzt hatte, all diese Türen erinnerlich, über die der General kein Wort verloren hatte. Wohin mochten solche Türen nicht alles führen? Und noch etwas stützte ihre These: wenn die Erinnerung sie nicht gänzlich täuschte, befand sich die verbotene Galerie mit den Zimmern der unglückseligen Mrs. Tilney direkt über der verdächtigen Zellenreihe, in welchem Fall die Wendeltreppe, die sie so flüchtig erspäht hatte und die vielleicht auf geheimem Wege mit den Zellen verbunden war, das barbarische Vorgehen ihres Gatten begünstigt hatte. Wie leicht konnte sie in einem Zustand raffiniert eingefädelter Bewußtlosigkeit diese Treppe hinuntergeschafft worden sein!
Zwar erschrak Catherine zuweilen über die Kühnheit ihres Verdachts, zwar hoffte oder fürchtete sie zuweilen, zu weit damit zu gehen; aber Indiz fügte sich so lückenlos an Indiz, daß sie ihn nicht von der Hand weisen konnte.
Da sie den Teil des Gevierts, in dem sie die schändlichen Vorgänge vermutete, ihrem eigenen genau gegenüber zu wissen glaubte, kam ihr der Gedanke, es könnte ja in den unterenFenstern, wenn sie es nur geschickt genug anstellte, vielleicht der Schimmer der Lampe auszumachen sein, die dem General auf seinem Weg zum Kerker seiner Frau leuchtete; und zweimal huschte sie vor dem Zubettgehen leise aus ihrem Zimmer an das entsprechende Fenster in der Galerie, um hinüberzuspähen; aber draußen war alles dunkel, und es mußte noch zu früh sein. Die verschiedenen Geräusche, die von unten zu ihr heraufstiegen, deuteten darauf hin, daß die Dienstboten noch auf waren. Vor Mitternacht, so nahm sie an, brauchte sie sich nicht auf die Lauer zu legen; dann aber, wenn die Uhr zwölf geschlagen hatte und alles still war, würde sie, sofern die Furcht vor der Finsternis sie nicht überwältigte, noch einmal hinausschleichen und einen Blick hinüberwerfen. Die Uhr schlug zwölf – und Catherine schlief schon eine halbe Stunde.
IX. KAPITEL
Am nächsten Tag fand sich keine Gelegenheit, die geheimnisvollen Gemächer zu erkunden. Es war Sonntag, und die gesamte Zeit zwischen dem Morgen- und dem Nachmittagsgottesdienst galt es, sich mit dem General an der frischen Luft zu ergehen und hernach mit kaltem Braten zu stärken; und so groß Catherines Neugier auch war, reichte ihr Mut doch nicht aus, um sich nach dem Essen noch aufzumachen, nicht im schwindenden Tageslicht zwischen sechs und sieben Uhr und auch nicht bei dem noch begrenzteren, wenngleich helleren Schein einer verräterischen Lampe. Der Tag verging deshalb, ohne daß ihre Phantasie neue Nahrung erhalten hätte, außer durch einen hocheleganten Denkstein für Mrs. Tilney, der in der Kapelle direkt vor der Familienbank stand. Von diesem wurde ihr Blick sogleich angezogen und lange gefesselt; und die Lektüre des hochpathetischen Epitaphs, in dem der untröstliche Gatte, der ja auf die eine oder andere Weise ihr Vernichter gewesen sein mußte, der Verstorbenen jede nur erdenkliche Tugend bescheinigte, rührte sie regelrecht zu Tränen.
Daß der General als Errichter des Steins auch seinem Anblick standhielt, durfte vielleicht nicht verwundern, und dennoch: daß er in so dreister Gefaßtheit vor ihm sitzen konnte, daß er den Kopf so hoch trug und so furchtlos um sich blickte, ja daß er sich überhaupt in die Kirche wagte, schien Catherine unbegreiflich. Nicht daß ihr nicht etliche andere Sünder eingefallen wären, die ähnlich abgebrüht durchs Leben gingen. Sie konnte Dutzende aufzählen, die dem Laster in jedernur denkbaren Form gefrönt hatten – die Verbrechen um Verbrechen begangen, wahllos gemordet hatten, ohne je ein menschliches Rühren oder gar Reue zu empfinden, bis ein gewaltsamer Tod oder das Klosterdasein ihre schwarze Laufbahn beendeten. Die Existenz des Denksteins als solche konnte ihre Zweifel am Ableben Mrs. Tilneys jedenfalls in keiner Weise ausräumen. Selbst wenn man sie in die
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