Nosferas
Nachthimmel.
»Ja, ich finde, die Dracas müssen endlich begreifen, dass sie nicht über uns stehen. Denn solange sie sich überlegen fühlen, werden sie sich weiterhin separieren, ja, vielleicht sogar die anderen Familien bekämpfen und die Oberherrschaft über uns alle anstreben. Sieh dir nur an, wie sie mit ihren Unreinen umgehen! Sie sind ihre Sklaven, die sie ohne mit der Wimper zu zucken, der Vernichtung preisgeben würden, wenn es nur ihrer Bequemlichkeit diente!«
Ivy wiegte unschlüssig den Kopf. »Im Kern sind deine Gedanken leider richtig, auch wenn du in deinem Urteil zur Übertreibung neigst.«
Alisa ging nicht darauf ein: »Nur wenn sie einsehen, dass sie Stärken, doch vor allem auch Schwächen haben, die sie nur mit Hilfe der anderen Familien überwinden können, werden sie sich der Idee dieser gemeinsamen Akademie öffnen. Und nur dann können wir alle Vorteile daraus ziehen. Nur dann können wir überleben und eine gemeinsame, starke Blutlinie gründen!«
Ivy nickte. »Und gerade deshalb bin ich mir nicht sicher, ob so ein Wettstreit der richtige Weg ist. Geht es hier nicht wieder darum, wer über wem steht? Darum, den anderen in den Schmutz zu stoßen und ihn in seiner Niederlage zu verspotten?« Sie hatten Luciano bereits wieder überholt und hinter sich zurückgelassen. Nun bremste Ivy ihren Schritt und ließ ihn vor der nächsten Abzweigung auf holen.
»Oh ja, das werde ich!«, keuchte er. »Mich an ihrer Niederlage weiden und diese Angeber unseren Spott wie ranziges Blut schmecken lassen. Allein der Gedanke treibt mich an und lässt mich diese Anstrengung ertragen!«
Sie tauschten Blicke. »Ja, es ist noch ein weiter Weg«, gab Alisa zu. »Soll ich nun schwören, dass ich alle Feindseligkeit ablege und immer nur freundlich zu diesen … Dracas sein werde?«
Ivy lachte glockenhell. »Ich würde dir deinen Schwur nicht glauben. Du erstickst ja bereits an deinen Worten!«
Sie überquerten den Campo de Fiori, auf dem schon bald die Marktstände aufgebaut werden würden, für Fisch und Gewürze, Obst, Gemüse, aber auch für die Blumen, die ihm seinen Namen gaben. Früher, als der Platz noch eine Wiese gewesen war, hatten hier regelmäßig Hinrichtungen stattgefunden. Die älteren unter den Vampiren erinnerten sich noch an die Spektakel und an die lodernden Scheiterhaufen. Heute war der Blutgeruch längst verweht.
Luciano führte sie an den zahlreichen zu dieser Stunde geschlossenen Gasthäusern vorbei und verließ den Platz im Osten. Plötzlich blieb Seymour stehen, die Ohren aufgestellt, den Blick starr in die Gasse zu ihrer Linken gerichtet.
»Was ist los?«, fragte Ivy und setzte noch ein paar gälische Worte hinzu. In ihrer Stimme schwang Besorgnis.
»Er wird die anderen gewittert haben«, meinte Luciano. »Dann ist es ihnen also nicht gelungen, uns abzuhängen! Sehen wir zu, dass wir weiterkommen und den Kapitolhügel erreichen.«
Ivy schüttelte den Kopf. Ihre Hand schwebte über den gesträubten Nackenhaaren des Wolfes. »Nein, es sind nicht die anderen. So angespannt habe ich ihn schon lange nicht mehr erlebt. Irgendetwas ist da. Er weiß es selbst nicht genau …«
»Gefahr für uns?«, wollte Alisa leise wissen, die dicht an Ivy herangetreten war.
»Vielleicht.«
»Seine Witterung ist besser als unsere. Kann er uns führen?«, fragte Alisa.
Ivy wollte gerade etwas erwidern, als Seymour aufjaulte und dann davonschoss. »Nein«, rief sie. »Ich lasse dich nicht alleine!«
Die Vampire rannten dem Wolf hinterher, so schnell sie nur konnten. Er steuerte auf eine Kirche zu und blieb dann auf dem kleinen Platz davor so unvermittelt stehen, wie er losgelaufen war. Er war wie erstarrt. Nur seine Schwanzspitze zuckte.
»Was hat er nur?«, drängte Alisa.
Ivy hob ratlos die Schultern. »Ich weiß es nicht. So hat er sich noch nie aufgeführt.«
Alisa betrachtete die kleine, baufällige Kirche und die schäbigen Häuser rund um den Platz. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was den Wolf so sehr beunruhigte. Plötzlich lief er wieder los, an der Kirche vorbei und zwischen dichten Büschen auf eine alte Steintreppe zu, die in die Tiefe führte. Zwei Katzen, die auf einem antiken Säulenstumpf geruht hatten, sprangen auf und flitzten fauchend davon.
»Onkel Carmelo, hast du das gehört?« Ein ungewohntes Geräusch hatte Latonas Träumerei von blauen Augen und einem schönen, blassen Gesicht durchbrochen. Sie wartete die Antwort nicht ab und trat an das
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