Nosferas
Engel, fast zum Greifen nahe auf seinem Podest!
Oben angelangt rannte Luciano die Galerie entlang, die einen weiten Ausblick über ganz Rom bot. Noch ein paar Stufen, die sie in ein Gemach mit gewölbter Decke führten. Eine enge Wendeltreppe schließlich brachte sie zur Plattform hinauf. Die drei stürmten auf die Dachterrasse hinaus und stießen fast mit den Dracas zusammen. Für einen Wimpernschlag sahen sie einander nur an. Seymours Knurren löste die Erstarrung.
»Hinauf zum Engel!«, riefen Alisa und Franz Leopold gleichzeitig und krallten sich schon in die erste weiße Schmuckleiste, die das Einzige war, was ihnen in dieser Wand Halt bot. Vorsichtig zogen sie sich hoch und griffen nach der nächsten Leiste. Die anderen folgten ihnen. Luciano und Karl Philipp glitten immer wieder ab, während die anderen sich mühsam weiterarbeiteten. Seymour lief jaulend auf der Plattform auf und ab. Franz Leopold war Alisa ein kleines Stück voraus, dann kam Ivy, die nicht schneller vorankam, da sie Alisa an dieser Stelle nicht überholen konnte. Ebenso erging es Anna Christina.
Das weiße Podest, auf dem der bronzene Engel stand, die Schwertklinge gesenkt, um sie in die Scheide zu stecken, war nicht sehr hoch. Alisa reckte sich und umklammerte die Kante. Mit Schwung zog sie sich hinauf, schwang sich auf den Sockel und griff nach einem der nackten Knie des Engels.
»Gewonnen!«, jauchzte sie, kurz bevor ihre Hand nicht wie erwartet auf harte Bronze stieß, sondern einen vielleicht ebenso kühlen, aber doch weicheren Arm umgriff. Sie sah in das schönste und kälteste Gesicht, das sie kannte.
»Nicht ganz«, sagte Franz Leopold und lächelte. »Wir waren eindeutig schneller!«
»Ich habe den Engel zuerst berührt.« Sie bemerkte, dass sie sich noch immer an Franz Leopolds Handgelenk festhielt. Alisa ließ ihn so hastig los, dass sie beinahe nach hinten gefallen wäre, doch er packte sie am Ärmel, bis sie ihr Gleichgewicht wiedergefunden hatte.
»Du willst schon gehen?«, säuselte er. »Dann wünsche ich dir einen guten Flug!« Zwar ließ er sie los, doch Alisa stand jetzt sicher und konnte ihn wütend anfunkeln.
»Gib zu, dass wir schneller waren und den Wettkampf gewonnen haben!«
Franz Leopold setzte seine übliche arrogante Miene auf und ließ den Blick schweifen. »Ich sehe nur unser Dickerchen dort unten stehen und wie ein Hund klägliche Blicke zu uns heraufwerfen!«
»Ja, er steht dort zusammen mit Karl Philipp …«
»… und die beiden fangen jeden Augenblick eine Prügelei an«, ergänzte Ivy und sprang auf die Plattform zurück. Doch Seymour hatte sich bereits zwischen die beiden jungen Vampire gestellt, die sich mit gefletschten Zähnen anknurrten.
»Sehen wir uns an, wie mein Vetter den kleinen Dicken zu Brei verarbeitet, oder mischen wir uns ein?«, fragte Franz Leopold. »Was meinst du Alisa?« Sie gab ihm keine Antwort, sondern folgte Ivy. Franz Leopold zuckte mit den Schultern und sprang dann ebenfalls elegant nach unten zurück.
»Keiner hat den Sieg errungen!«, sagte Ivy. Als die anderen ihre Stimmen erhoben, um zu protestieren, brachte sie sie mit einer einzigen energischen Handbewegung zum Schweigen. Obwohl sie von ihrer Körpergröße her die Kleinste war, strahlte sie eine Autorität aus, die sie mächtiger erscheinen und ihre zierliche Gestalt in Vergessenheit geraten ließ.
»Alisa und Franz Leopold haben gleichzeitig die Engelstatue berührt. Wir anderen vier sind zurückgeblieben. Also wenn es Sieger gibt, dann sind es die beiden, von uns anderen knapp gefolgt. Ich denke, der Wettkampf hat gezeigt, dass unsere Familien sich gar nicht so sehr unterscheiden. Wir haben verschiedene Kräfte, die aber alle nützlich sind, und wir können sowohl gegeneinander als auch miteinander kämpfen. Lasst uns noch eine Weile diesen wundervollen Ausblick über die vom Mond beschienene Ewige Stadt Rom genießen. Dann sollten wir uns auf den Heimweg machen, denn das Licht der Sterne im Osten beginnt bald zu verblassen.«
»Was für eine Rede! Mir schwirrt der Kopf, Signora Professoressa«, sagte Franz Leopold, doch es klang nicht halb so spöttisch, wie er vermutlich beabsichtigt hatte.
»Ja, es ist ein wundervoller Blick«, bestätigte Alisa, die an die Brüstung getreten war. Der Tiber bewegte sich träge zwischen seinen schlammigen Ufern. Auf den Kähnen und Fischerbooten des nördlichsten der drei Stadthäfen brannten Laternen, deren Licht sich im Wasser spiegelte. Der ein oder andere
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