Nosferas
Schultern.
»Das war es dann auch schon. Ich fragte, ob ich euch suchen und herbringen solle, doch er meinte, das sei nicht mehr nötig. Der altehrwürdige Giuseppe befahl Leandro, sich um die Sache zu kümmern, der Conte war einverstanden, und der Bibliothekar sagte, er werde mit ein paar Unreinen rausgehen, das Problem beseitigen und die Reste der Verbrannten zurückbringen.«
»Wie ist es euch gelungen, die Vampirjäger zu verjagen, nachdem sie Seymour verletzt haben? Ihr habt sie doch nicht etwa gebissen?«
»Nein, das haben wir nicht, Alisa.« Ein seltsamer Ausdruck trat in sein Gesicht. Überlegte er, wie viel der Wahrheit er ihnen anvertrauen wollte?
»Ich hätte es getan«, sagte er nach einer Weile leise, »doch so weit ist es nicht gekommen. Da war noch etwas in dieser Nacht unterwegs. Eine fremde Aura, mächtig, oh ja, sehr mächtig. Ivy hat es auch gespürt, doch sie wird nicht darüber sprechen. Nicht zu mir und auch nicht zu euch.«
Luciano protestierte, aber Alisa unterbrach ihn mit einer Handbewegung. »Was war es? Ein Mensch?« Franz Leopold schüttelte den Kopf. »Was dann? Ein fremder Vampir?«
Der Dracas erhob sich rasch und kehrte zu seiner gewohnten Unnahbarkeit zurück. »Genug geplaudert«, sagte er lässig und schlenderte davon. Alisa sah ihm nach.
»Ich hole ihn zurück und prügle die Antwort aus ihm heraus«, rief Luciano.
Alisa ignorierte seine leere Drohung. »Meinst du, es war ein fremder Vampir?«
Luciano hob die Schultern. »Wenn er aus einem der sechs Clane stammt, hätte er ihn am Geruch erkannt.«
»Ein Vampir, der zu keinem Clan gehört?«, schlug Alisa vor. Sie dachte an die Nacht beim Kolosseum, als Ivy sie voller Unruhe zurückgedrängt hatte.
»Gibt es so etwas heute überhaupt noch?«, erwiderte Luciano skeptisch. »Ich jedenfalls habe noch nie von einem clanlosen Vampir gehört!«
»Ich auch nicht«, gab Alisa zu, nahm sich aber vor, in der Bibliothek nach einer Antwort zu suchen.
Ivy tauchte auch die ganze nächste Woche nicht mehr im Unterricht auf. Nicht nur Alisa vermisste sie schmerzlich. Lucianos Stimmung schwankte zwischen apathisch und aggressiv. Seine Streitlust richtete sich meist gegen Franz Leopold, und ein paar Mal musste er schmerzhafte Schläge einstecken, weil Karl Philipp sich zufällig gerade in der Nähe befand. Zweimal konnte Alisa ihn aus einer brenzligen Situation befreien, aber sie war nicht immer rechtzeitig zur Stelle. So glitten die Nächte dahin. Um Luciano nicht völlig aus dem Gleichgewicht zu bringen, trainierte sie im Unterricht mit ihm statt mit Malcolm, der sie immer wieder darum bat und schließlich eines Nachts zu Chiara ging, um sie als Partnerin für die Übungen zu gewinnen. Chiara nickte erfreut. Alisa wandte den Blick ab und unterdrückte einen Seufzer. Sie konnte Malcolm keinen Vorwurf machen.
»Fangen wir an«, sagte sie zu Luciano, barscher, als sie es beabsichtigt hatte.
Die Professoren wechselten einander ab, Signora Enrica und Signor Ruguccio, Signora Valeria und leider auch die Geschwister Letizia und Umberto, wobei sie sich für ihre Verhältnisse anständig verhielten. Vielleicht hatte der Conte sie zur Ordnung gerufen.
»Ich hoffe, er hat sie ihren eigenen Rohrstock spüren lassen«, bemerkte Luciano, als sie wieder einmal eine Nacht in der Gesellschaft der beiden halbwegs unbeschadet überstanden hatten.
»Das geschähe ihnen recht!«, gab Alisa zurück und packte ihre Unterlagen in die Tasche. Heute fühlte auch sie sich unausgeglichen und gereizt. Kein Wunder! Sie hatte schon über eine Woche keine frische Nachtluft mehr genossen. Mehr und mehr empfand sie die Domus Aurea als Gefängnis. Sie lauschte auf jeden Gesprächsfetzen, doch sie erfuhr nichts, was darauf schließen ließ, dass die beiden Vampirjäger ausgeschaltet worden waren. Allerdings verschwanden auch keine Familienmitglieder mehr, was immerhin ein schwacher Trost war.
»Und was machen wir jetzt?«, fragte Luciano lustlos.
»Ich werde noch einmal in die Bibliothek gehen.«
»Und was soll das bringen?«
»Vielleicht finde ich ja doch etwas über freie Vampire, die keinem Clan angehören. Leandro konnte mir leider nicht weiterhelfen.«
»Konnte er nicht oder wollte er nicht?«, gab Luciano zu bedenken.
Alisa kaute auf ihrer Unterlippe. »Du hast recht. Wie wäre es, wenn du ihn möglichst lange ablenkst und ich mich in den Regalen umsehe, von denen er mich bisher ferngehalten hat?«
Luciano stöhnte. »Hätte ich nur nichts gesagt!«
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