Nosferas
hatte. Vielleicht lag es an ihren Augen, die Dinge gesehen hatten, die den anderen Mädchen vielleicht für immer erspart bleiben würden. Dinge, die sie in ihren Träumen heimsuchten. Ja, es stand in ihre braunen Augen geschrieben. Auch Onkel Carmelo hatte es bemerkt.
»Das ist nicht gut«, hatte er heute Abend gesagt und sich wieder einmal geweigert, sie mitzunehmen. War es nicht ein wenig spät, sie jetzt auszuschließen und in der Ungewissheit, wie die Sache laufen würde, zurückzulassen? Latona schnaubte empört und nahm ihre Wanderung wieder auf. Vor dem Kleiderständer in der Ecke blieb sie stehen. Da hing der altmodische Mantel mit dem Schultercape, den ihr Onkel nur zu einer bestimmten Gelegenheit trug. Ihre Hand glitt in die Tasche und fühlte den Gegenstand, der zu dem Mantel gehörte und zu dem Geheimnis, das er am liebsten vor ihr verborgen hätte. Vor ein paar Wochen jedoch, als er zu viel Wein getrunken hatte, war es ihr gelungen, ihm einige Sätze herauszulocken, die er seitdem zu bereuen schien. Zumindest hatte er sie mehrmals aufgefordert, die unbedachten Worte zu vergessen. Gerade deshalb hielt Latona sie in ihren Gedanken fest und ließ sie immer wieder in ihrem Kopf kreisen. Sie legte sich den Umhang über die Schultern und trat vor den Spiegel. Der schwere Stoff fiel bis zu ihren Knöcheln hinab und verhüllte den schlanken Mädchenkörper. Sie zog die rotsamtene Maske aus der Tasche und band sie sich vors Gesicht. Ihre Augen wirkten fast schwarz zwischen den Schlitzen und sie kam sich größer vor - mächtiger.
»Der Zirkel der roten Masken«, murmelte das Mädchen und lauschte den Worten nach, wie sie in dem schäbigen Zimmer verklangen. In dem leeren Zimmer, in dem der Onkel sie wieder einmal alleine gelassen hatte. Latona ballte die Hände zu Fäusten und starrte ihr Spiegelbild an, das so fremd war. Ab jetzt würde sich alles ändern! Sie war es leid, immer noch wie das elternlose, kleine Kind behandelt zu werden, das Carmelo gegen seinen Willen aufgebürdet bekommen hatte. Sie war fast schon erwachsen und sie würde nun mehr als seine lästige Nichte sein. Seine Mitarbeiterin und Vertraute! Seine Assistentin bei der Jagd nach dem Bösen der Nacht!
Der Deckel wurde beiseitegeschoben. »Einen guten Abend wünsche ich Euch, junger Herr«, sagte der Diener höflich. Anscheinend mühelos hob er die schwere Platte an und lehnte sie gegen die Wand. Franz Leopold machte sich nicht die Mühe, den Gruß zu erwidern. Gemächlich kletterte er aus dem mächtigen steinernen Sarkophag. Er zog die Kleider der vorherigen Nacht, in denen er sich auch zur Ruhe gelegt hatte, aus, und ließ sie zu Boden fallen. Matthias beeilte sich, die Kleidungsstücke einzusammeln, und half dann seinem jungen Herrn in einen frischen Anzug, den er gerade noch einmal ausgebürstet hatte, damit auch kein Stäubchen den feinen schwarzen Stoff verunzierte. Mit ausgestreckten Armen stand Franz Leopold da, während Matthias ihm erst in Hemd und Hose half, die Weste zuknöpfte und seine weiße Fliege band. Franz Leopold wartete geduldig, bis der Diener ihm das Haar gekämmt und im Nacken mit einer schwarzen Schleife zusammengebunden hatte. Trotz seines vierschrötigen Körperbaus und der großen Hände ging Matthias erstaunlich behutsam vor.
Ihm ist nur allzu bewusst, dass ich zu strafen weiß, wenn er sich ungeschickt anstellt, dachte Franz Leopold und lächelte. Er ließ den Blick über die fünf Särge schweifen und stellte mit Genugtuung fest, dass seiner der größte und prächtigste war. Die Schlafstätten der beiden Römer Luciano und Maurizio waren alt, die Inschriften und Reliefs verwittert, und Fernand schlief gar in einem völlig schmucklosen Steinsarg, doch ihn störte das offensichtlich nicht. Während sich die Dracas von ihren Dienern frisch ankleiden ließen und die beiden Schatten der jungen römischen Vampire ihnen zumindest die Kleider ausbürsteten, saß Fernand auf dem Rand seines Sarges und ließ die kurzen Beine baumeln. Er war mit seinen zwölf Jahren der Jüngste in diesem Schlafraum. Offensichtlich hatte er keinen Unreinen, der sich um ihn kümmerte, und er schien das auch nicht zu vermissen. Seine Kleider jedenfalls sahen so aus, als habe sich seit Jahren keiner mehr um sie bemüht. Die Hosen waren ausgebeult und schmutzig, der Kittel formlos und an zwei Stellen eingerissen. Franz Leopold zog angewidert die Oberlippe hoch.
»Ich frage mich, in welchem Schweinestall die dort in Paris leben«,
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