Nosferas
die jungen Vampire zu ihrer Überraschung den altehrwürdigen Giuseppe auf einem Ruhebett vor dem Pult vor. Er hob die knochige Hand und winkte ihnen, ihre Plätze einzunehmen. Alles war natürlich besser als Stunden bei den Geschwistern Letizia und Umberto, die sie untereinander nur noch die Folterknechte nannten. Alisa war allerdings ein wenig enttäuscht, dass ihr Abwehrtraining heute anscheinend nicht fortgesetzt wurde.
Der alte Vampir räusperte sich. »Ich möchte mit euch über Politik sprechen. Über Politik - nicht nur die der Menschen.« Er kicherte leise. »Ah, welch Verwunderung in den Bänken vor mir. Ihr fragt euch, was das mit euch zu tun hat, nicht wahr? Mehr als ihr denkt. Ein guter Politiker studiert vor allem seine Gegner sorgfältig, um seine Chancen und die Gefahren einschätzen zu können. Was glaubt ihr, wer ist unser größter Gegner?« Der Altehrwürdige sah in die Runde. Einige hoben die Schultern.
»Nun Fernand? Was meinst du?«, fragte er den vierschrötigen jungen Vampir aus Paris.
Fernand ließ sich Zeit mit der Antwort und kraulte so lange seine Ratte am Bauch. »Die Menschen«, sagte er schließlich. Einige der Mitschüler lachten.
»Kannst du uns das näher erklären?«, hakte der altehrwürdige Giuseppe nach.
»Ist doch klar. Wir sind die Jäger und sie sind unsere Beute. Das gefällt ihnen natürlich nicht und deshalb sind sie unsere Feinde. Es gibt Vampirjäger unter ihnen, die den Spieß umdrehen und uns jagen und vernichten wollen.« Das war für Fernand eine ungeheuer lange Rede gewesen und so schwieg er jetzt erschöpft.
Giuseppe wandte sich an die schöne Dracas neben ihm. »Marie Luise, wenn Fernand recht hat, dann sind sicher nicht alle Menschen gleich gefährlich für uns. Wer ist unser schlimmster Feind?«
»Die Vampirjäger, das hat Fernand doch schon gesagt.«
»Hm, andere Meinungen?«
»Der Papst!«, rief Chiara dazwischen. »Er ist es doch, der seinen Kardinälen und Bischöfen sagt, sie sollen uns verfolgen und vernichten.«
»Sofern er überhaupt von uns weiß und an unsere Existenz glaubt«, widersprach Malcolm.
»Aber natürlich tut er das! Die Kirche hat uns schon immer bekämpft«, rief Mervyn.
Malcolm nickte. »Das schon, aber nicht mehr alle glauben, dass es uns wirklich gibt. Sie wollen alles mit ihren neuen Wissenschaften erklären.« Er verzog den Mund zu einem Grinsen. »Und Darwin hat uns in seiner Lehre zur Entstehung der Arten, glaube ich, nicht erwähnt.«
»Genauso wenig wie die Bibel uns als Spezies aufzählt - weder von Gott geschaffen noch von Lucifer!«, widersprach Mervyn. »Und dennoch weiß in Irland jeder um unsere Existenz.«
Der Altehrwürdige hob den dürren Arm, über den sich die Haut wie Pergament spannte. »Ah, welch hitzige Debatte. Das gefällt mir. Doch eine Gruppe habt ihr noch gar nicht erwähnt.« Er wartete. Dann sagte er nur ein Wort: »Vampire!« Es klang in dem Saal nach und verhallte dann. Die jungen Vampire der sechs Clans schwiegen überrascht. Einige tauschten fragende Blicke.
»Ja, denkt darüber nach. Warum seid ihr hier? Hättet ihr euch das vor ein paar Monaten träumen lassen? Was habt ihr von den anderen Familien gedacht? Welche Geschichten und Gerüchte erzählt man sich bei euch über die anderen Clans? Sagt man, sie stünden weit unter euch? Seien rachsüchtig und böse? Wert, ausgelöscht zu werden?«
»Wohl zu Recht«, hörte Alisa Franz Leopold hinter sich leise sagen, doch der Altehrwürdige hatte es ebenfalls gehört.
»Zu Recht? Nun, vielleicht. Ich kenne die stolze Familie der Dracas und ich habe in meinem langen Leben schon mehr als einmal im Kampf um Leben oder Vernichtung einem fremden Clanmitglied gegenübergestanden. Und damit war auch ich ein Feind der Vampire, denn ich habe mit meinen eigenen Händen dazu beigetragen, unsere Spezies auszurotten! Und das seid ihr auch, wenn ihr euch, statt euch gegenseitig zu helfen und eure Stärken zu teilen, mit Misstrauen verfolgt und bekämpft. Heute verhöhnt und prügelt ihr euch vielleicht nur, doch in ein paar Jahren? Zieht ihr dann mit einem Schwert in der Hand aus, um dem anderen das Herz herauszuschneiden und den Kopf abzuschlagen?« Die Schüler starrten ihn an. Einige schienen fast unter Schock zu stehen. »Wer gegen sein Familienoberhaupt und gegen die Gemeinschaft der Clans arbeitet, der ist der größte Feind von uns Vampiren!«
Er machte eine Pause und lehnte sich in seinem Ruhebett zurück. Seine Wangen wirkten eingefallen. Er
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