Nosferas
Hindrik sollten als Führer mitkommen. Zu ihrer Überraschung schloss sich auch der Bibliothekar Leandro an. Er hatte vor, einige Inschriften auf den Grabsteinen zu kopieren.
Der Weg führte am Circus Maximus vorbei und dann eine Straße entlang, auf der zu dieser Zeit noch einige Kutschen unterwegs waren. Doch die kleinen Gruppen schattenhafter Gestalten fielen anscheinend niemandem auf. Sie hatten die Schmalseite des Circus noch nicht vollständig passiert, als Alisa unvermittelt stehen blieb und sich nach etwas bückte.
Luciano ließ sich ebenfalls zurückfallen. »Was hast du da?«
Sie hielt ihm wortlos ein kleines Stück Stoff hin. Schwerer tiefroter Samtstoff. Luciano zuckte mit den Schultern. »Ja und? Ein Stück Samt. Aus irgendeinem Kleidungsstück herausgerissen. Nach was riecht es?«
Alisa hielt es sich dicht unter die Nase. »Ich kann diese Nonne riechen, die wir beim Kolosseum beobachtet haben!«
»Was?« Luciano sah sie zweifelnd an und nahm ihr das Stück Stoff aus der Hand. »Ich weiß nicht. Es sind zu viele Gerüche, die sich überlagern. Und selbst wenn? Wirf es weg.«
Luciano schloss sich wieder seinen Mitschülern an. Alisa roch noch einmal an dem Samt und steckte ihn dann in ihre Tasche. Vielleicht bildete sie sich da etwas ein, aber eines wusste sie ziemlich sicher: Sie hatte diesen Stoff schon einmal in Händen gehalten.
Nach einer kleinen Piazza verebbte der Strom der nächtlichen Reisenden, und bald waren die Vampire die Einzigen, die noch auf der Straße unterwegs waren. An der Piazza Porta San Paolo, an deren Südseite die Stadtmauer entlangführte, versammelten sie sich wieder. San Paolo selbst war fuori mura, also außerhalb der Mauern gelegen; doch nicht die Grabkirche des heiligen Paulus, die Kaiser Konstantin hatte errichten lassen, war ihr Ziel. Der Professor geleitete seine Schar am Tor vorbei auf ein steinernes Monument zu.
»Was ist denn das?«, fragte Ivy und deutete auf das Gebilde aus weißen Steinquadern, das in die Stadtmauer eingefügt war. »Eine Pyramide, in Rom?«
Alisa betrachtete das Bauwerk. »Vielleicht hat Kleopatra Caesar hier in Rom besucht und ihm eine kleine Pyramide als Gastgeschenk mitgebracht?«
Luciano grinste. »Nicht ganz. Aber die Zeit ist gar nicht so verkehrt. Sie ist ein paar Jahre vor Christi Geburt von einem wichtigen Volkstribun aufgestellt worden, der sich anscheinend nach ägyptischem Vorbild bestatten lassen wollte.«
»Was unser Dickerchen nicht alles weiß«, säuselte Franz Leopold im Vorbeigehen.
»Ja, ist das nicht schön?«, sagte Ivy in ihrem weichen Tonfall. »Ich finde es viel angenehmer, mir von Luciano Geschichten aus der Vergangenheit anzuhören als von dir grundlose Beleidigungen und Sticheleien. Wie wird das wohl sein, wenn wir zu euch nach Wien kommen? Ich bedaure es schon jetzt, wenn du uns von euren Geschichten ausschließt.«
Franz Leopold setzte ein paarmal dazu an, etwas zu erwidern, ließ es dann aber und gesellte sich wieder zu seinen eigenen Clanmitgliedern, die sich wie immer ein wenig abseits hielten. Auch die Londoner waren lieber unter sich und Joanne und Fernand schienen nur Tammo richtig zu akzeptieren. Es würde noch ein langer Weg sein, bis Misstrauen und Vorurteile unter den Familien verschwanden.
Alisa sah zu Malcolm hinüber. Sein Gesicht hatte bereits die schärferen Konturen eines jungen Mannes, seine Haltung konnte man nur als aristokratisch bezeichnen. Selbst wenn er nicht die dunkle Schönheit besaß, die Franz Leopold und seinen Familienangehörigen zu Eigen war und die jedes Herz zum Stolpern brachte, wenn man sie nur anblickte, so sah Malcolm doch auf seine Weise sehr gut aus.
Ja, es gab spezielle Kandidaten unter den jungen Vampiren, bei denen Alisa gar nichts dagegen einzuwenden gehabt hätte, wenn sie sich für eine bessere Verständigung der Clans interessiert hätten. Eine viel bessere!
Sie spürte Franz Leopolds Blick und wandte rasch den Kopf ab. Und es gab auch jene, bei denen sie nicht traurig wäre, sie niemals wieder sehen zu müssen!
Wie zufällig ließ sich Alisa neben Malcolm treiben. Er lächelte freundlich, als er sie bemerkte. »Sag mal, hast du die rote Maske noch, die du mir mal gezeigt hast?«
Malcolm zögerte. »Ja, schon, aber nicht hier. Warum?«
Alisa zeigte ihm das Stoffstück. »Ich würde sagen, es ist der gleiche Samt.«
»Hm, wenn du meinst.«
»Ich werde ihn mit der Maske vergleichen«, sagte Alisa und hob ein wenig herausfordernd das Kinn.
»Warum?
Weitere Kostenlose Bücher