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Nosferas

Nosferas

Titel: Nosferas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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späte rote Rose in den Händen. Gedankenverloren fuhr er mit den Fingerspitzen die Ränder der Blütenblätter entlang. Er hörte die Schritte im Gras und das Hüsteln - seine Sinne waren trotz seiner Amtszeit von nun schon fast zweiunddreißig Jahren noch immer erstaunlich jung -, doch er ignorierte die Störung, solange es möglich war.
    Zweiunddreißig Jahre, dachte er. Kein anderer Papst vor ihm hatte das Glück gehabt, eine so lange Zeit im Amt bleiben zu dürfen. Warum hatte der Herr gerade ihn ausgewählt, so lange auf dem höchsten Thron der Christenheit zu sitzen? Welche Aufgaben hielt er noch für ihn bereit?
    Er war nicht müßig gewesen, seit er den Namen Pius IX. angenommen hatte. Und er war nicht bequem. Er hatte das Dogma der Unbefleckten Empfängnis Mariens verkündet und noch viel wichtiger: die Unfehlbarkeit des Papstes bei der Verkündung eines Dogmas. Dies war in gewisser Weise auch eine Art, seinen Protest zu zeigen, dass er, der der mächtigste Mann der Christenheit sein sollte, ohnmächtig als Gefangener im Vatikan festsaß - oder besser gesagt, in der winzigen Parzelle, die der italienische König und sein unsägliches Parlament ihm gnädig gelassen hatten, als sie beschlossen, ihm seinen Staat, der ihm von Gott selbst gegeben worden war, mit Waffengewalt zu entreißen. Aber er war nicht ganz so machtlos, wie sie alle dachten. Gut, er konnte seinen Staat nicht in offener Schlacht zurückerobern. Seine wenigen Schweizer Gardisten und ihre altmodischen Waffen taugten dazu nicht und auch die Franzosen beschränkten ihr Unterstützungsangebot auf Asyl in ihrem Reich. Nein, er musste andere Wege gehen. Dass sein Wort beim einfachen Volk noch zählte, hatte sein Aufruf zum Wahlboykott bei Androhung kirchlicher Strafen gezeigt. Diese widerlichen Nationalisten hatten ihn damals zwar zur Flucht ins Asyl getrieben, aber er hatte dafür gesorgt, dass nur wenige Menschen zur Wahlurne gingen, um diese widerrechtliche Nationalversammlung zu wählen. Pius unterdrückte einen Seufzer. Diese Republik war 1849 nur ein kurzes Zwischenspiel geblieben, und es war ihm schon bald möglich gewesen, in den Vatikan zurückzukehren. Aber war die Situation jetzt viel besser?
    Vielleicht hätte er damals forscher und mutiger sein sollen, als Vincenzo Gioberti ihm von seinem kühnen Traum erzählte, ganz Italien unter einem römischen Papst zu einigen. Wenn er nicht so zögerlich gewesen wäre, vielleicht säße dann jetzt nicht Vittorio Emanuelle auf einem Königsthron in Rom. Vielleicht gäbe es dann ein vereintes, göttliches Italien unter dem Schutz des Heiligen Vaters. Was sonst käme hier auf Erden dem Paradies näher?
    Nun, vielleicht würde ihm die Geschichte eine zweite Chance geben. - Würde Gott der Herr ihm eine zweite Chance geben!
    Das Hüsteln hinter seinem Rücken wurde lauter und drängender, und so sah der Papst ein, dass er es nicht länger ignorieren konnte. »Treten Sie vor. Was gibt es?«
    Der Camerlengo, Sekretär und Vertreter im Falle des Ablebens des Papstes, und ein Korporal der Schweizergarde folgten der Aufforderung, näherten sich und grüßten, wie es ihren Ämtern nach angemessen war.
    »Nun sagen Sie, was Sie auf dem Herzen haben«, forderte Pius den Sekretär mit einem etwas gezwungenen Lächeln auf.
    »Kardinal Angelo wünscht, Euch zu sprechen, Heiliger Vater«, sagte der Camerlengo mit jener unterwürfigen Stimme, die der Papst so verabscheute, dass er schon mehrmals in seinen Gebeten Abbitte für die Ablehnung geleistet hatte, die er dem Sekretär entgegenbrachte.
    »Dann lassen Sie ihn nicht länger warten. Ich werde ihn hier empfangen.« Nun, den Kardinal liebte er ebenso wenig. Dieser  war allerdings kein Mann, dem man mit mitleidiger Verachtung begegnete. Im Gegenteil. Er war eine starke Persönlichkeit, die etwas Geheimnisvolles, Unheimliches ausstrahlte. Ein Raubtier, vor dem man sich in Acht nehmen und das man besser nicht aus den Augen lassen sollte.
    »Heiliger Vater.« Der Kardinal verbeugte sich und küsste den ihm dargebotenen Ring. Die tief stehende Sonne ließ sein Gewand wie frisches Blut glänzen.
    »Setzt Euch, verehrter Kardinal. Was wünscht Ihr?« Pius musste sich anstrengen, seine Hände ruhig im Schoß liegen zu lassen.
    »Zuerst, wie geht es Euch, Heiliger Vater? Sagt mir, wie fühlt Ihr Euch?«
    Pius überlegte. »Gut, ja eigentlich wunderbar. Erstaunlich wunderbar, wenn ich mein hohes Alter bedenke.«
    »Ja, fünfundachtzig ist ein stolzes Alter«,

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