Nosferas
sie haben gelernt, Knochenbrüche zu schienen und Wunden zu vernähen und …« Plötzlich hielt sie inne. Etwas Silbernes schimmerte neben Ivys Kopfkissen. Alisa beugte sich über den Rand und holte eine Haarlocke hervor. Verwirrt hielt sie sie zwischen den Fingern und sah zu Ivy hinüber, die sich gerade ihr leuchtendes Gewand über den Kopf zog. Ihr langes Haar trug sie wie üblich offen. Es fiel in sanften Wellen über Schultern und Rücken. Ganz deutlich sah Alisa wieder die kürzeren Enden der Strähne, die Franz Leopold in der Kirche abgeschnitten hatte.
Sie hielt die Locke hoch. »Er hat es doch nicht etwa schon wieder gewagt?«
»Was?« Ivy sah auf und bemerkte die Haarlocke in Alisas Hand. »Wo hast du das her?«
»Aus deinem Sarg. Hat Franz Leopold dir schon wieder eine Locke abgeschnitten? Warum hast du nichts gesagt?«
Ivy machte zwei schnelle Schritte auf sie zu und riss Alisa die Haarsträhne aus der Hand. »Nein, hat er nicht. Du brauchst also um meinetwillen keinen Rachefeldzug zu planen!«
Seymour jaulte und schnappte nach Alisas Jacke.
»He, was ist denn in dich gefahren?« Sie fühlte sich ein wenig gekränkt. Bisher hatte sie gedacht, der Wolf würde sie akzeptieren, ja, mehr noch, dass die Zuneigung, die sie für das edle Tier empfand, auf Gegenseitigkeit beruhte.
Ivy stopfte die Locke in ihren Beutel und griff in Seymours Nackenfell. »Nichts! Er ist zuweilen nur ein wenig launisch.« Der Wolf knurrte. »Du kannst ihn ruhig streicheln. Er mag dich.«
»Sicher?« Zaghaft legte sie die Hand in seinen Nacken. Er winselte nur. Alisa sah zu Ivy auf. »Aber woher hast du die Locke dann? Hast du sie von Luciano zurückgefordert oder hat er sie dir freiwillig gegeben?«
Ivy lächelte ein wenig schief. »Du hast Ähnlichkeiten mit Seymour, das muss ich schon sagen. Wenn du mal etwas gepackt hast, dann lässt du nicht mehr los, koste es, was es wolle. Ja, was Hartnäckigkeit anbetrifft, da seid ihr euch wirklich ebenbürtig.«
Alisa sah dem Wolf in die gelben Augen. »Ich weiß nicht, ob ich das als Kompliment auffassen soll.«
Ivy hakte sich bei ihr unter und zog sie aus der Schlafkammer. »Komm jetzt. Ich habe Hunger. So möchte ich mich nicht ans Leichenzerteilen machen. Sonst begehe ich in meiner Gier noch eine Dummheit und falle über die Studienobjekte her.« Alisa grinste.
»Und nun berichte mir von den unglaublichen medizinischen Entdeckungen der Menschheit«, forderte Ivy sie auf, als die beiden durch die kaum beleuchteten Gänge zur Halle mit der goldenen Decke hinüberschlenderten.
Alisas Augen funkelten vor Begeisterung. »Hast du schon mal von Louis Pasteur, von Robert Koch oder von Ignaz Semmelweiß gehört?«
Ivy schüttelte den Kopf und forderte die Freundin auf, weiterzusprechen. Bis sie die Halle erreichten, hatte Alisa sie darüber aufgeklärt, dass es kleine Lebewesen waren, die die Krankheiten der Menschen verursachten und auch das Essen verdarben. Der Franzose Pasteur hatte nachgewiesen, dass Hitze diese Tierchen in der Nahrung zerstörte.
»Und der Arzt Semmelweis hat erkannt, dass bereits einfache Lauge oder auch Chlorkalk die Übertragung der Gifte von Kranken oder Leichen auf Gesunde verhindert. Er erließ hygienische Vorschriften beim Umgang mit Gebärenden und erreichte so, dass heute sehr viel weniger Frauen im Kindbett an dem gefürchteten Fieber zugrunde gehen.« Alisas Wangen glühten. Sie betraten die Halle, wo ihnen ein Gewirr von Stimmen und warmer Blutduft entgegenschlugen.
Luciano entdeckte sie als Erster und winkte ihnen zu. »Oh, ich sehe, Alisa ist wieder in einer ihrer gefährlichen Phasen, in denen sie allen das faszinierende Wissen der Menschheit vermitteln muss«, sagte er und zwinkerte Ivy mit einer gespielt tragischen Miene zu. »Du hast mein größtes Mitgefühl. Komm, setz dich schnell neben mich und stärke dich, das hast du jetzt sicher nötig. Raphaela, wir haben hier einen Notfall!«
Die junge, hübsche Vampirin wandte sich zu ihnen um und kam an ihren Tisch geeilt. Das Kind auf ihrem Rücken greinte. »Was für einen Notfall? Wer ist im Begriff, an Blutarmut zu verderben?«
Ivy lachte hell auf, während Alisa dem Römer einen beleidigten Blick zuwarf. Die Freundin nahm ihren Arm und zog sie mit auf die Bank. »Raphaela, Luciano übertreibt wieder einmal maßlos, aber du kannst uns dennoch zwei Becher einschenken, aber bitte randvoll! Und dann lass uns darauf anstoßen, dass wir Vampire den kleinen Tierchen gegenüber so
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