Nosferatu 2055
Redensart: Nur weil du paranoid bist, heißt das noch lange nicht, daß sie nicht hinter dir her sind«, sagte der Troll.
»Oder, wie die Redensart jetzt lautet: Jeder, der nicht paranoid ist, ist nicht aufmerksam genug«, sagte der Engländer trocken. »Aber das hier hat nichts mit Paranoia zu tun. In Kapstadt liegt eine verkohlte Leiche, die das ganz eindeutig beweist. Jedenfalls befinden wir uns jetzt in einer Sackgasse. Einstweilen.
Wir müssen die Datenbanken nach allem durchsuchen, was wir über Mr. Shakala, unseren Zulu-Magier und alle anderen, auf die wir noch stoßen, herausfinden können«, sagte er, indem er sich erhob. »Es wird eine lange Nacht. Entschuldigt mich eine Weile. Ich muß mich etwas ausruhen. Wir sehen uns in einer halben Stunde.« Michael zog sich in sein Schlafzimmer zurück, wo er sich in einen gutgepolsterten Armsessel fallen ließ, die Augen schloß und sich in die Ruhe der Meditation vertiefte.
Kristen schleppte ihren blutenden und zerschlagenen Körper irgendwie zur Hintertür des Indra. Es war ein Wunder, daß sie, so, wie sie aussah, unterwegs nicht von der Polizei aufgegriffen wurde, aber sie hielt sich an die dunklen Hintergassen und Nebenstraßen, während sie durch die Stadt stolperte. Sie war völlig erledigt und glaubte, sich möglicherweise ein oder zwei Rippen gebrochen zu haben, aber das Blut stammte größtenteils aus harmlosen Schrammen.
Als der Rausschmeißer sie sah, blutig und verstört blickend, wollte er sie schon in die abfallübersäte Gasse zurückjagen, bis sie ihn anschrie, er solle Indra holen, und es handele sich um eine Familienangelegenheit auf Leben und Tod. Der Ork zögerte und knurrte etwas ins Interkom. Danach hielt er sie mit einigen ausgesuchten Beleidigungen auf Distanz, bis die elegante Inderin persönlich erschien. An dieser Stelle verfiel er in mürrisches Schweigen.
»Die Tsotsis haben Manoj umgebracht«, konnte Kristen noch sagen, und dann wäre sie dem Ork fast in die Arme gestürzt. Er wich voller Abscheu zurück, aber auf ein scharfes Wort von Indra zog er sie ins Hinterzimmer.
Während sie einen Brandy trank, beschrieb Kristen Indra die Mörder, so gut sie konnte. Sie war sich der Tatsache bewußt, daß sie einer Inderin die Xhosa-Mörder eines anderen Inders beschrieb und daß sie selbst eine halbe Xhosa war. Dadurch bekam die Sache einen scharfen Beigeschmack, der ihr nicht gefiel, aber damit lebte sie im Grunde schon seit ihrer Geburt. Sie konnte sich nur nicht daran gewöhnen. Kristen wußte nicht, ob Indra ihr dankbar sein würde, weil Manoj einer ihrer unendlich zahlreichen Vettern war, oder ob sie ihr die Seele aus dem Leib prügeln würde.
»Du kannst hierbleiben. Ich werde dafür sorgen, daß jemand nach dir sieht«, sagte Indra emotionslos. »Bring sie nach oben, Netzer. In ein Zimmer von einem der Mädchen.«
»Die sind alle besetzt«, sagte der Ork mürrisch.
»Dann sag einem der Kunden, seine zwanzig Minuten sind um, und schmeiß ihn raus«, sagte Indra in scharfem Tonfall. »Ich lasse Sunil holen«, sagte sie zu Kristen. »Wasch dich inzwischen.«
»Danke«, sagte Kristen dankbar und vergaß völlig, daß sie genug Geld hatte, um sich ein Zimmer zu mieten, in dem sie in Sicherheit gewesen wäre.
Eine Stunde später mußte sie geweckt werden, als der alte Mann mit der weichen Stimme eintraf. Sie kannte Sunil, wenngleich sie sich seine Behandlungen nur selten leisten konnte. Seine sanften Hände tasteten sie gründlich ab, dann wandte er sich an Indra, die ungerührt in der Tür des aufdringlich eingerichteten Hurenschlafzimmers stand.
»Die Rippen sind geprellt, aber nicht gebrochen«, sagte er, indem er in das traditionelle Gehabe der Ärzte verfiel, über einen Patient zu reden, als sei dieser taub oder begriffsstutzig. Selbst Straßendocs verhielten sich noch so. »Alles andere läßt sich mit etwas Antiseptikum säubern. Ihr Ohrläppchen müßte vielleicht mit einem oder zwei Stichen genäht werden.«
Kristen bemerkte erst jetzt, da er es erwähnte, daß ihr Ohrring verschwunden war. Ihre Hand fuhr automatisch an ihr Ohr, um nach ihm zu tasten, aber sie hielt inne, bevor ihre Finger die offene Wunde tatsächlich berührten.
»Ich kann bezahlen«, sagte sie schwach. Er nickte und sah sie erwartungsvoll an. Sie griff in ihre Tasche und zückte ein paar Dollars, aber als er endlich einen zufriedenen Eindruck machte, war ihr Schatz auf weniger als die Hälfte zusammengeschrumpft. Ihre Glückssträhne neigte
Weitere Kostenlose Bücher