Notbremse
zu sagen versucht. Ein Chef werde sich um die Angelegenheit kümmern. Die Fahrt durch das mittägliche Verkehrsgewühl dauerte nahezu eine Stunde. Dann waren sie in der Tiefgarage eines dieser stereotypen Hochhäuser gelandet. Die Hinweisschilder waren nur in Chinesisch gehalten, sodass Hocke keine Ahnung hatte, welches Ziel sie angesteuert hatten.
Er folgte den Drohgebärden und den unverständlichen Anweisungen widerstandslos. Nachdem man ihn von den anderen Festgenommenen getrennt hatte, wurde er von dem Anführer und zwei Uniformierten durch ein Treppenhaus zu einem Aufzug gebracht und 15 Stockwerke nach oben gefahren. Dort saß er nun seit einer halben Stunde in einem Besprechungsraum, dessen stabile Tür von außen verriegelt worden war. Der Anführer hatte ihm beschieden, hier zu warten. Hockes Bitte, die Deutsche Botschaft anrufen zu dürfen, hatte der Chinese mit einem freundlichen Lächeln quittiert.
»Wir wollen doch die Angelegenheit unter uns regeln. Oder nicht?« Und im Hinausgehen war noch die Bemerkung gekommen: »Glauben Sie mir – das ist in Ihrem und in unserem Sinne.«
Er verspürte einen Druck auf der Blase. Sein Magen knurrte, sein Darm spielte verrückt. Wenn sie ihn noch länger hier festhielten, blieb ihm nur ein Plastikpapierkorb, um sich zu erleichtern. Der Holzstuhl, auf dem er saß, war unbequem, auf dem klobigen Tisch vor ihm lagen chinesische Zeitschriften, von denen er einige bereits durchgeblättert hatte. Vorhin war er an die Tür gegangen, um festzustellen, dass man ihn tatsächlich eingesperrt hatte. Die Fenster ließen sich nicht öffnen und bestanden offenbar aus dickem Sicherheitsglas. Draußen erhoben sich überall Hochhausgiganten in die schwefelgelbe Atmosphäre. Seit Tagen blies kein Wind mehr – und die Sonne hielt die Abgase wie unter einer Käseglocke gefangen.
Hocke besah sich einige großformatige Fotografien, die als Poster an den weiß getünchten Wänden angebracht waren. Abgebildet war offenbar das olympische Dorf mit seiner modernen Architektur. Eines der Poster zeigte das Olympiastadion, das auf den ersten Blick wie ein ungeordneter Haufen Metallstäbe wirkte – und eigentlich ein Vogelnest darstellen sollte, wie der Schweizer Architekt es behauptete. Irgendwo jedoch hatte Hocke daheim mal gelesen, dass geunkt wurde, der Konstrukteur habe mal während des Telefonierens Kringel, Kreise und Striche auf ein Blatt Papier gemalt und dies später dann versehentlich als seinen Plan fürs Stadion weitergegeben. Hocke versuchte, sich mit solchen Gedanken abzulenken. Er hielt seinen Blick auf das Stadionposter gerichtet und konnte nachvollziehen, dass diese eigenwillige Konstruktion Raum für derlei Spekulationen geben konnte.
Dann endlich durchbrach ein Geräusch im Türschloss die Stille. Hocke schreckte auf. In der Tür erschien ein älterer Herr in eindrucksvoller Uniform. Der Deutsche kannte sich zwar in den Orden- und Ehrenzeichen der Militärs nicht aus, aber was dieser Mann auf Brust und Schulterklappen trug, war sicher von hoher Bedeutung, dachte Hocke. Hinter ihm hatten drei jüngere Begleiter Haltung angenommen.
»Hocke?«, fragte der Ordensbehangene mit stark chinesischem Akzent.
»Jawoll, das bin ich«, gab sich der Deutsche zu erkennen und stand auf.
»Jetzt sind Sie dran«, kam es aus dem Mund des Uniformierten zurück. Er betonte jedes einzelne Wort, sodass sich der Satz in Hockes Ohren geradezu schaurig anhörte – vor allem aber drohend. Denn es klang, als sei das Ende gekommen. Hocke war klar: Wenn er nicht bald auf die Toilette durfte, würde es eine Katastrophe geben.
31
Häberle hatte sich abgewandt. Er wollte nicht erkannt werden. Aber was, zum Teufel, trieb die beiden hierher, am Freitag zur Mittagszeit. Gracia und ihr väterlicher Hautarzt aus Geislingen.
»Ich geh spazieren am See«, flüsterte der Ermittler und entfernte sich schnell entlang des Ufers. Er musste sich den beiden später unauffällig nähern. Dem Doktor hätte er zugetraut, dass er ihn inmitten des vollbesetzten Bistros überschwänglich begrüßt und irgendeine Bemerkung über die Kriminalpolizei gemacht hätte. Und schon wäre die ganze Ermittlungsaktion für die Katz gewesen. Nach wenigen Schritten hatte er den Terrassenbereich des Bistros mit dem lauten Stimmengewirr verlassen und die angrenzende Wiese erreicht, auf der es sich einige Ausflügler auf Handtüchern, Matten und Gartenstühlen gemütlich gemacht hatten. Häberle nickte ihnen im Vorbeigehen freundlich
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