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Notbremse

Notbremse

Titel: Notbremse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M Bomm
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ein Dachs. Es gab, das wusste sie, um diese Jahreszeit vielfältiges Leben in der freien Natur.
    Als sie aufstand, fiel ihr Haar über die nackte Schulter. Sie trat die paar Schritte bis zum Geländer vor und sah die schwarze regungslose Fläche des Sees, der wie ein Schlund vor ihr lag, wie ein schwarzes Loch, das alles in sich hineinziehen konnte. Niemand konnte wissen, was sich dort unten alles verbarg – was schon alles auf den Grund gesunken war, dort in Schlamm und Kies steckte und vor sich hinmoderte.
    Sie versuchte, solche Gedanken zu vertreiben, sah wieder zum Mond hinauf, zu den felsigen Berghängen. Dann verließ sie die Terrasse, um dem Seeufer hinüber zur Wiese zu folgen. Sie spürte an ihren nackten Beinen, die in weißen Bermudashorts steckten, das feucht gewordene Gras und hochgewachsene Stauden.
    Am Ufer plätscherte für einen Moment das Wasser. Ein Fisch vielleicht oder anderes Getier, das sich von ihren sanften Schritten aufgeschreckt fühlte. In der Ferne hielt sich das gleichmäßige Rauschen der durchs Gebirge führenden Brennerautobahn.
    Sie ging dicht am Ufer weiter. Die Augen hatten sich an dieses Halbdunkel gewöhnt, sodass sie sich jedes Mal, wenn sie nach hinten sah, an dem Schatten erfreuen konnte, den sie selbst warf – so, als bewege sie sich bei Tageslicht durch einen unterbelichteten Film.
    Sie schaute das Zugseil an, von dem nach Betriebsende alle Haltevorrichtungen für die Sportler ausgeklinkt waren und an der Startrampe gebündelt auf den nächsten Morgen warteten. Die Frau näherte sich jetzt dem Schatten, den einige Bäume am See-Ende warfen. Wieder knackte etwas in einem Gebüsch. Ein hohes Piepsen ließ auf ein Mäuschen schließen, das sich in Sicherheit brachte. Das zeigte ihr, dass die Nacht lebte, dass viele wundersame Dinge außerhalb der oberflächlichen Tageshektik geschahen, die irgendjemand oder irgendetwas, das man Universum, Gott oder Urknall nannte, hervorgebracht hatte. Unweigerlich musste sie an eine Afrikareise denken, an eine Safari, als man frühmorgens in die Savanne hinausgefahren war und man miterleben musste, wie ein gnadenloser Kampf ums Überleben tobte. Jeder frisst jeden, dachte sie damals – und jetzt kam es ihr wieder in den Sinn, weil sie überlegte, wie viele Kreaturen wohl den nächsten Sonnenaufgang nicht mehr überlebten, weil sie von der Schöpfung als Futter für andere ausersehen waren.
    So schlimm das Fressen und Gefressenwerden auch war, so war es doch von dem Universum so gewollt – genau so, wie alles Schöne und Schlechte kam und verging, lebte und starb. Nichts von all diesem war ungewöhnlich. Das Sterben gehörte zum Leben, seit angeblich aus dem Nichts, wie es manche Wissenschaftler in dieser realistischen Welt darzustellen versuchten, dieses Universum entstanden war. Und zwar so zufällig entstanden, dass es diese Erde geben konnte, die sich in einem so günstigen Abstand um eine Sonne drehte, dass sich darauf – durch wen auch immer und angestoßen durch was auch immer – ein so wunderbares Lebenssystem entwickeln konnte, das einzig und allein der Mensch durch seine angebliche Intelligenz aus dem Gleichgewicht brachte.
    Während die Frau den Schatten durchwanderte und jetzt das obere Ende des Sees erreicht hatte, war es ihr plötzlich, als sei sie nicht allein. Nicht so, wie in der vergangenen Stunde, als sie sich von Tieren umgeben fühlte. Jetzt war das Gefühl anders. Sie blieb stehen und lauschte in die Nacht, die sie hier einhüllte. Es waren Schritte gewesen, die sie zu vernehmen glaubte und die verstummten, sobald sie stehen blieb. Dann war nur noch das Rauschen der Autobahn zu hören, das die Stille des Tales störte.
    Die Frau wagte es nicht weiterzugehen, griff vorsichtig in die Hosentasche, in der sie stets ein kleines Pfefferspray bei sich trug. Sie spürte Gänsehaut, als sie nach dem Döschen fingerte und den Zeigefinger auf den Druckknopf legte, wie sie dies schon Dutzende Male getan hatte, wenn sie glaubte, in eine brenzlige Situation geraten zu sein. Sie war jetzt bereit, das Döschen blitzartig aus der Tasche zu ziehen und einem Angreifer frontal ins Gesicht zu sprühen. Wie dies jedoch im Freien wirkte, wusste sie nicht. Überhaupt hatte sie keine Ahnung, ob es einen Angreifer tatsächlich außer Gefecht setzen würde. Nie zuvor hatte sie es ausprobiert.
    Sie blieb stehen und fasste den Entschluss, wieder zum Bistro zurückzugehen, das im schönsten Mondlicht lag.
    Doch dazu sollte es nicht mehr

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