Notbremse
dort auch gerade rumgelaufen ist«, ergänzte der Ältere.
»Ja«, bestätigte Fludium, »beide sagen aber nicht, dass ihnen der Mann im Zug aufgefallen ist. Erst nach der Notbremsung sind sie zur Tür, um nach dem Rechten zu sehen. Und letztlich war es der Berliner, der sich als Erster gegenüber dem Schaffner als Zeuge zur Verfügung gestellt hat – und danach die Lara. Beide erklären übereinstimmend, dass ein Mann im hellen Sommermantel zur Böschung geflüchtet ist.«
»Das sagt aber auch der Mensch aus Castrop-Rauxel, heißt, glaub ich, Lemke«, erklärte der Vierte aus der Runde.
»Und was schließt ihr daraus?«, meldete sich der Kaffeetrinker.
Schulterzucken. Fludium brach das Schweigen: »Wir müssen rauskriegen, ob unser Opfer allein im Abteil war. Dieser ICE hat schließlich nur ganz wenige geschlossene Erste-Klasse-Abteile und, soweit ich weiß, pro Zug nur ein einziges mit vier Plätzen. Sein Ticket wurde in Ulm gekauft, das wissen wir – und zwar schon vor drei Tagen, nachmittags um kurz nach drei. So steht’s da drauf. Und wir wissen auch, dass die restlichen drei Plätze ebenfalls reserviert waren. Die Frage ist doch, von wem?«
»Vielleicht kann sich am Fahrkartenschalter in Ulm noch jemand entsinnen …?«, meinte der Ältere, der sich ans offene Fenster gelehnt hatte.
»Hast du eine Ahnung, wie viele Tickets dort täglich verkauft werden?«, gab Fludium leicht ironisch zurück. Der Kollege wollte gerade eine Antwort geben, als eines der Telefone anschlug. Fludium sprang aus seiner Sitzposition vom Tisch, griff zum Hörer und meldete sich. Er lauschte dem Anrufer ein paar Sekunden und sagte schließlich: »Besten Dank, Kollegen, wir werden morgen Vormittag sowieso nach Ulm kommen.« Dann legte er auf und informierte die Kollegen: »Die Ulmer haben festgestellt, dass der Autoschlüssel von unserem Toten zu dem Golf im Parkhaus passt. Allerdings sei im Fahrzeug nichts zu finden, was auf den Fahrer schließen lässt. Nur die Papiere dieser Autovermietung ›Etschrent‹ in Bozen.«
»Auch kein Führerschein?«, wollte der ältere Kollege wissen.
»Offensichtlich nicht«, erwiderte Fludium. »Unser Toter war halt ohne Identität unterwegs.«
»Ein Phantom«, meinte der Kriminalist im Hintergrund, der inzwischen seine Beine auf die Tischkante gelegt hatte.
»Oder ein Agent«, fügte der Ältere hinzu, ohne es ernst zu meinen.
13
Der Güterzug war durchgefahren und das Tal wieder ruhig. Häberle und Linkohr hatten Gracia gebeten, das Licht ihres Renaults auszuschalten und sich auf den Beifahrersitz des Kripo-Audis zu setzen.
»Sie brauchen sich nicht zu sorgen«, beruhigte sie der Chefermittler und drehte sich hinterm Steuer zu ihr. »Wir können uns in Ruhe unterhalten.«
Linkohr behielt vom Rücksitz aus die Umgebung im Auge.
»Entschuldigen Sie«, gab sich Gracia wieder verschüchtert und ängstlich. »Aber ich wollte nicht sprechen vor Doktor. Ich hoffe, Sie verstehen.«
Häberle lächelte väterlich, was Gracia in der Dunkelheit vermutlich nicht sehen konnte. »Wir verstehen alles«, sagte er und verschränkte die Arme. Er gab der jungen Frau Zeit, sich die Worte zu überlegen.
»Ich kenne den Mann«, sagte sie schließlich und überraschte damit die beiden Kriminalisten.
Häberle ließ es sich nicht anmerken. »Den Mann auf dem Bild, das wir Ihnen gezeigt haben«, stellte er ruhig und mit sonorer Stimme fest, als sei diese Erkenntnis nichts Ungewöhnliches.
Gracia nickte. »Ist es schlimm, dass ich es nicht gleich gesagt habe?«
»Natürlich nicht«, beruhigte Häberle erneut, während durchs halb geöffnete Seitenfenster die Motorbremse eines die Steige abwärtsfahrenden Lastzugs zu hören war. Der Chefermittler musste daran denken, dass Gracia aus Bulgarien stammte, wo der Polizei mit Sicherheit mehr Respekt entgegengebracht wurde als in Deutschland. »Sie wissen auch, wie er heißt?«, fragte er nach.
Die beiden Kriminalisten warteten gespannt auf eine Antwort, doch Gracia schüttelte den Kopf. »Fritz, hat er gesagt. Ich soll Fritz zu ihm sagen.«
»Fritz«, staunte Häberle. »Und wie weiter?«
»Weiß ich nicht.«
»Aber Sie haben ihn getroffen?«
Sie nickte. »Er hat mich vor drei Wochen angesprochen. Auf Sonne-Deck-Parkplatz. Dort parken wir – Herr Dr. Mirka und ich.«
Wieder stockte sie. Häberle wollte sie nicht zur Eile drängen, sondern wartete mit seiner Frage ein paar Sekunden: »Tagsüber oder abends?«
»Abends, nach Ende von Sprechstunde. Herr Dr.
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