Notbremse
eine Dunstglocke über der Stadt hing. Der Mann, der im siebten Stock des Jiangxi Grand Hotel in der Hengyitiao Nummer 8 aus dem Fenster sah, blickte auf die graue Fassade eines lang gezogenen Hochhauses hinüber, das überall auf der Welt hätte stehen können. Peking hat kein Gesicht, stellte der Europäer enttäuscht fest. Seit vor etwa 30 Jahren der Modernisierungswahn begonnen hatte, schossen die Hochhäuser atemberaubend schnell aus dem Boden. Gnadenlos wurden die alten Kleinstadtkarrees mit ihren ummauerten Hofhäusern abgeräumt, um dem vermeintlichen Fortschritt Platz zu machen, der sich nach sozialistischem Denken in immer höheren Gebäuden manifestierte. Der Mann musste unweigerlich an die einstige DDR denken, wo in gleicher Weise Historisches beseitigt und durch teilweise geistlose Hochhausblöcke ersetzt worden war. Zwar erhoben sich in Peking seit jüngster Vergangenheit auch Prunkbauten mit viel Glas, Alu und Marmor, doch waren sie im Gesamtbild dieses Betonmeers noch immer die Ausnahme. Der Europäer hatte in den vergangenen Tagen bei den mühsamen Fahrten durch die permanent verstopften Straßen vergeblich ein Zentrum gesucht. Peking, so schien es ihm, war die endlose Aneinanderreihung von Büroblöcken und Geschäftshäusern, massiven Wohnvierteln und immer wieder aufragenden Hochhäusern. Und die Straßen führten mehrspurig meist gradlinig durch diese urbane Ebene, kreuzten sich mit Überführungen, häufig aber auch mit Ampeln, was zu einem völlig unübersehbaren Chaos führte. Er war mit der Vorstellung nach Peking geflogen, auf Hunderttausende Fahrradfahrer zu stoßen. Doch dass sich dies längst radikal gewandelt hatte, wurde ihm bereits bei der Fahrt vom Flughafen in dieses Hotel deutlich. Beinahe eine Stunde war das Taxi für wenige Kilometer unterwegs gewesen. Die Chinesen mussten übergangslos vom Fahrrad aufs Auto umgestiegen sein. Er hatte den Eindruck, dass hier im Kernbereich der Stadt kaum mehr Fahrradfahrer unterwegs waren als an einem wetterbegünstigten Ferienwochenende in Deutschland. Von dem gelassenen Taxifahrer, der relativ gut Englisch sprach, hatte er erfahren, dass Peking bei der Motorisierung erst am Anfang stehe. Auf die rund 16 Millionen Einwohner fielen gerade mal erst fünf Millionen Fahrzeuge – bei täglich tausend Neuzulassungen. Da seien wohl bald acht, neun Millionen realistisch, hatte der Taxifahrer gemeint. Der Besucher vermochte sich nicht auszumalen, wo so viele zusätzliche Autos hier überhaupt noch fahren sollten. Ganz zu schweigen davon, welch gigantische Mengen an Schadstoffen in die Luft geblasen würden.
Zur Olympiade jedenfalls, so hatte er gelesen, wollten die Chinesen alles daransetzen, um sich der Welt sauber und sympathisch zu präsentieren. Die Luftverschmutzung, die in den Sommermonaten dramatische Formen annahm, sollte unter allen Umständen reduziert werden. Der Europäer war sich nicht sicher gewesen, ob der Taxifahrer es mit der Bemerkung ernst gemeint hatte, dass China notfalls etwas in die Luft pusten werde, um über Peking bei Bedarf einen reinigenden Regen auszulösen. Zuzutrauen wäre es ihnen, dachte der Hotelgast, während sein Blick an den Balkonen des gegenüberliegenden Hochhauses entlangstrich. Dort war Wäsche zum Trocknen aufgehängt. Aprilfrisch würde sie in dieser Luft wohl nie werden, dachte er und überlegte, welch hohen Preis die Menschen hier für diesen rasanten Aufschwung bezahlen mussten. Was in anderen Teilen der Welt über Jahrzehnte hinweg entstanden war und sich entwickeln konnte, das schien hier explosionsartig vonstattenzugehen. Wohl ohne Rücksicht auf die Umwelt – angeordnet von der Regierung und der Partei. Wie hatte jüngst ein Geschäftsmann daheim in Deutschland jubiliert, nachdem er bei Peking einen halbstaatlichen Betrieb eingeweiht hatte, an dem er beteiligt war? Die Regierung sei bei der Realisierung gesteckter Ziele ausgesprochen konsequent. Was doch im Klartext nur heißen konnte, dass es keine langwierigen Genehmigungsverfahren mit der Anhörung von Institutionen gab. Genauso hatten sie wohl auch den Jangtsefluss aufgestaut. Ohne Rücksicht auf Natur und Ökologie. Aber wen interessierte das schon?, sinnierte der Mann und beugte sich dicht an die Glasscheibe, um weit nach rechts hinaussehen zu können, wo eine Reihe Laubbäume ein paar Bebauungsreste früherer Tage bedeckte. Die Kapitalisten von auswärts warfen sich den Chinesen an den Hals, um hier ungehindert von europäischer Bürokratie
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