Notbremse
produzieren und Billiglöhne nutzen zu können. Irgendwo hatte er gehört, wie dramatisch die Gegensätze waren: Für 16 Cent die Stunde, so hatte ein Geschäftsmann getönt, bekomme er in diesem Land Arbeitskräfte. Da lohne es sich allemal, ein komplett neues Werk aufzubauen und die Produkte um die halbe Welt zu transportieren.
Der Hotelgast schaute auf seine Armbanduhr – 21.17 Uhr – und nahm noch einen Schluck Mineralwasser. Um 21.30 Uhr sollte ihn ein Taxi zu Zhao zu bringen, von dem er nur wusste, dass er der deutschen Sprache mächtig war und im Nationalen Olympischen Komitee saß. Von dem Gespräch, das in einem Touristenlokal stattfinden sollte, wo niemand Verdacht schöpfen würde, hing der Erfolg seiner Reise ab. Der Mann, der erst gestern Abend angekommen war, fühlte sich unsicher, obwohl er oft im Ausland zu tun hatte. Aber hier, in dieser fremden Welt aus unverständlichen Schriftzeichen und einer Sprache, die ihn eher an musikalische Klänge erinnerte als an Worte, kam es ihm vor, als sei er auf einem anderen Planeten. Zwar waren die Menschen, die er bisher kennengelernt hatte, alle freundlich und hilfsbereit. Aber mit dem Gedanken, sich allein außerhalb des Hotels zu bewegen oder gar mit Omnibus oder Bahn reisen zu müssen, mochte er sich nicht anfreunden. Überall diese Schriftzeichen, von denen jedes ein filigranes Gemälde zu sein schien.
Immer, wenn er wenigstens irgendwo einen englischen Text fand, sog er diesen geradezu auf und versuchte, ihn zu übersetzen. Unten neben der Rezeption war ein Hinweis angebracht, weshalb die Klimaanlage in den Zimmern zeitweilig abgeschaltet sei oder sich nicht manuell regeln ließ. Der Spur nach hatte er herausgelesen, dass dies eine Maßnahme der Regierung war, um im Hinblick auf die Olympiade Energie zu sparen und die Umwelt zu schützen.
Der Mann warf im Badezimmer noch einen Blick in den Spiegel. Sein Gesicht war glatt rasiert. Er war mit sich zufrieden. Obwohl knapp 50, konnte er durchaus für zehn Jahre jünger geschätzt werden, stellte er fest und lächelte sich zu. Dann streifte er seine leichte beige Jacke über, zog das Codekärtchen fürs Zimmer aus der Halterung, worauf einige Lichter erloschen, und verließ den Raum.
Auf dem Weg durch den langen Flur zum Aufzug vergegenwärtigte er sich wieder einmal, wer er war: der Repräsentant eines international erfolgreichen Pharmaunternehmens. Nichts anderes.
19
Konstantin Rieder hatte wieder Platz genommen, sich zurückgelehnt und erwartet, dass ihm Linkohr sagen würde, was mit dem Mercedes geschehen war. Doch der junge Kriminalist war für ein paar Sekunden in Gedanken versunken. Erst danach klärte er sein Gegenüber auf:
»Wir haben den Wagen gefunden.«
Rieders Gesichtsfarbe veränderte sich. »Sie haben was?«
»Gefunden. Wir haben den Mercedes gefunden. Er steht am Rasthaus Irschenberg, A 8, rund 40 Kilometer hinter München, Richtung Salzburg.«
Der Manager schluckte. »Sie haben diesen Mercedes gefunden?«, wiederholte er fassungslos.
»Wundert Sie das?« Linkohr überlegte, entschied sich dann aber doch zu der Nachfrage: »Könnte es denn sein, dass diese Frau … Ringeltaube damit selbst unterwegs war?«
»Frau Ringeltaube? Sie meinen, sie könnte …?« Rieders Blicke wurden unsicher. »Hat man sie denn dort gefunden?«
Linkohr schüttelte den Kopf und half seinem Gegenüber aus der Verlegenheit: »In Ihrem Auftrag war sie nicht unterwegs – dort in Bayern?«
»Wie? Nein. Also nicht, dass ich wüsste. Wenn, dann hat Frau Ringeltaube den Wagen meist für Besorgungen hier im näheren Umkreis benutzt.« Nach kurzem Zögern hakte er nach: »Frau Ringeltaube war nicht beim Wagen?«
»Nein«, klärte Linkohr auf. »Irgendjemand hat den Wagen vergangene Nacht dort abgestellt und den Schlüssel an der Tankstelle hinterlegt – adressiert an Herrn Häberle.«
»Häberle?«
»Kommissar Häberle. Mein Chef.«
»Der Wagen ist … unversehrt?«
»Soweit wir wissen, ja.«
»Hat man denn den Wagen geöffnet?«
Linkohr ließ sich mit der Antwort Zeit und schaute auf seine Armbanduhr. »Ich denke, dass dies zur Stunde geschieht. Herr Häberle ist dort.«
»Das ist aber hochinteressant«, meinte Häberle, nachdem sich seine erste Überraschung gelegt hatte. Der Chefermittler und der ältere Beamte von der Autobahnpolizei blickten erstaunt auf den Inhalt des deformierten Aktenkoffers. Darin lag, sorgfältig in Zeitungspapier gebettet, eine schwarze Waffe. Häberle erkannte, dass es
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