Notbremse
wohl eine Beretta, neun Millimeter, war. Bei der zusammengeknüllten Zeitung, die als Transportschutz benutzt worden war, handelte es sich um die Ulmer ›Südwest Presse‹, und zwar von vorgestern, wie Häberle von der ersten Seite ablesen konnte, die erkennbar herausragte.
Der Kriminalist ließ den Koffer unberührt. Während sich der jüngere Uniformierte wieder näherte und erklärte, dass die Kripo aus Miesbach sofort eintreffen werde, ließ der Chefermittler den Kofferraumdeckel des Mercedes wieder einrasten. Er streifte die Handschuhe ab, gab sie den beiden Polizisten zurück und sagte:
»Bitten Sie die Kollegen, das gesamte Fahrzeug zu untersuchen und in Geislingen anzurufen.« Er notierte die Nummer der Sonderkommission auf einem Notizzettel und reichte diesen dem älteren. »Ich muss weiter, hab noch ein paar wichtige Termine in Südtirol.«
Die beiden Uniformierten schüttelten ihm zum Abschied die Hand und sahen dem schwäbischen Kommissar nach, der in seinen Audi stieg.
Nachdem er sich wieder in die Lkw-Kolonne eingefädelt hatte, ließ Häberle den Wagen auf der rechten Spur abwärts rollen – weiter in Richtung Salzburg. Rechts vor ihm erhoben sich im Dunst des Sommertags die Berge. Der Ermittler drückte die Nummer der Sonderkommission und war gleich mit Fludium verbunden. Er berichtete ihm von dem Fund im Kofferraum des Mercedes.
»Soll ich Linkohr Bescheid sagen?«, fragte der Kollege aus Geislingen und fügte ergänzend hinzu: »Der sitzt gerade bei Rieder.«
»Nein«, entschied Häberle. »Warten wir ab, was Rieder ihm gesagt hat. Gibt’s sonst was Neues?«
»Die Kollegen in Ulm haben was rausgefunden. Zu den Bahntickets, die in Ulm gekauft wurden. Der Mann vom Fahrkartenschalter kann sich an eine Frau mit langen blonden Haaren erinnern, die am Montagnachmittag vier Erste-Klasse-Tickets gekauft hat. Er ist sich ziemlich sicher – nun, die Frau sei ziemlich rassig gewesen, wie er sich ausdrückte.«
»So etwas bleibt im Gedächtnis«, kommentierte Häberle und grinste in sich hinein, während er am Heck des vorausfahrenden Lastwagens die kyrillischen Buchstaben der Werbeaufschrift studierte.
»Sie hat ausdrücklich nach einem separaten Abteil gefragt«, fuhr Fludium fort. »Auch das ist ihm in Erinnerung, weil sie es ursprünglich in einem Zug früher gewollt hat, es da aber kein freies Abteil mehr gab.«
»Und wie wurde bezahlt?«
»Leider bar«, kam es zurück. »Es gibt also keine Chance, sie ausfindig zu machen. Allerdings ist die Beschreibung, die der Mann von ihr abgibt, nicht schlecht. Wie gesagt – lange blonde Haare, groß, so um die 30, schätzt er.«
»Dann brauchen wir uns ja nur in Ulm umzuschauen – und schon haben wir sie«, gab der Kommissar ironisch zurück.
Fludium schwieg.
»Und was machen die Handyverbindungen von unseren Toten?«, wurde Häberle wieder sachlich.
»Die Telefongesellschaften sind noch dran.«
Häberle wollte gerade das Gespräch beenden, als Fludium »Moment« sagte und sich offenbar kurz mit einem Kollegen verständigte. Häberle sah das blaue Hinweisschild auf das nahende Inntaldreieck.
»Chef«, meldete sich Fludium wieder, »wir haben gerade eben das Ergebnis der Projektiluntersuchung gekriegt. Das wird Sie interessieren.« Er unterbrach kurz, doch nachdem Häberle nichts dazu sagte, fuhr er fort: »Die Jungs in Stuttgart haben festgestellt, dass unser Toter im Zug und der Knabe im Schrank mit ein und derselben Waffe erschossen worden sind. Mit dieser Walter PPK, Kaliber 7,65, die wir in der Toilette des ICE gefunden haben. Leider gibt’s keine Fingerabdrücke.«
»Ach«, war Häberles knappe Reaktion. Er hatte bis Bozen genügend Zeit, sich Gedanken darüber zu machen und seine Schlüsse daraus zu ziehen.
Fludium setzte nach dem Telefonat mit Häberle die Kontaktaufnahme mit den wichtigsten Zeugen aus dem Zug fort. Als er den Berliner Clemens Probost per Handy erreichte, hatte er in Gedanken den kleinen rundlichen und fast kahlköpfigen Menschen vor sich, der seinen Berliner Dialekt nicht verbergen konnte. Probost gab sich als freier Handelsreisender aus, der momentan in Süddeutschland unterwegs war. Nachdem er die Nacht in Stuttgart verbracht hatte, war er jetzt bereits wieder im Zug auf dem Weg nach Ulm, wie er Fludium berichtete.
»Mit dem ICE?«, wollte der Kriminalist wissen. Ihm war plötzlich eine Idee gekommen.
»Nein, mit einem Bummelzug«, kam es zurück. »Regionalbahn.«
»Wo sind Sie gerade?«
Kurze Pause.
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