Notbremse
Kerl schräg hinter ihm wollte ins gleiche Hotel. Noch bevor er etwas sagen oder nach dem Türgriff hätte fingern können, setzte sich das Taxi in Bewegung und schoss aus der Seitenstraße in eine mehrspurige Straße hinein – für Hocke ein Rätsel, wie schnell sich der Chauffeur in dieses Chaos eingefädelt hatte. Der Deutsche, der sein schweißnasses Hemd am Rücken kleben fühlte, hielt die Visitenkarte mit der Hoteladresse in der Hand. Er vergewisserte sich in holprigem Englisch, dass der Fahrer die Adresse auch kannte. Der Mann hinterm Steuer nickte freundlich. Hocke besah sich den Gebührenzähler, an dem irgendeine Registriernummer angebracht war. Er prägte sie sich ein. Im Ernstfall würde er später zumindest sagen können, welche Nummer das Taxi hatte. Falls er überhaupt noch Gelegenheit dazu haben würde. Er drehte den Kopf leicht nach links, um die Schattenfigur auf dem Rücksitz besser sehen zu können. Ein Hüne von einem Mann. Regungslos saß er da, den Blick nach links auf die Straße gerichtet. Als nehme er den Fahrgast vorn rechts überhaupt nicht zur Kenntnis.
Hocke starrte wieder geradeaus, versuchte, sich an den Herweg zu erinnern. Doch inzwischen war es Nacht geworden und er konnte sich beim besten Willen an überhaupt keinen markanten Punkt mehr entsinnen, an dem er vorbeigekommen sein könnte. Wenn die beiden gemeinsame Sache machten, war er ihnen hilflos ausgeliefert. Im Geiste sah er schon die Schlagzeilen in Deutschland vor sich: ›Spurlos verschwunden in Peking‹. Wer würde sich in dieser 16-Millionen-Stadt dafür interessieren, wenn da ein deutscher Tourist verschwand? Hier war so was vermutlich nicht mal eine Zweizeilenmeldung in einer Zeitung wert. Außerdem, das befürchtete er, würden die chinesischen Behörden bei den Ermittlungen der deutschen Polizei nicht sehr kooperativ sein, wenn sie erfahren würden, dass er auch noch illegal hier herumgeschnüffelt hatte. Vielleicht wusste man schon alles. Heutzutage war das doch kein Problem. Auf dem Einreisevisum hatte er zwar, wie man es ihm empfohlen hatte, ›kaufmännischer Angestellter‹ angegeben, doch war es ein Leichtes, seine wahren Absichten zu ergründen. Andererseits hatte man ihn bei dem Reiseveranstalter beruhigt und erklärt, dass es unmöglich sei, bei der Flut der täglich nach China einreisenden Personen jede einzelne zu überprüfen.
Hocke bemerkte, wie sich die Lichter der entgegenkommenden Autos in seinen Augen mit den roten Schlusslichtern vermengten. Er konnte sich auf nichts mehr konzentrieren. Plötzlich schreckten ihn die elektronischen Töne seines Handys auf. Der Chauffeur sah zu ihm herüber – und die Gestalt auf dem Rücksitz räusperte sich.
Hocke holte das Gerät aus der Innentasche seines Jacketts und sah aufs beleuchtete Display. Eine italienische Handynummer, die ihm vertraut war.
Es war alles ganz schnell gegangen. Der Leitende Oberstaatsanwalt Dr. Ziegler in Ulm hatte sich mit dem Bereitschaftsrichter in Verbindung gesetzt und die Verfügung zur Durchsuchung der Wohnung von Sylvia Ringeltaube erhalten. In diesem Fall hätte es auch Ziegler allein anordnen können, weil ›Gefahr im Verzug‹ drohte. Doch Ziegler, stets darauf bedacht, korrekt vorzugehen, hatte den üblichen Weg eingehalten, um im weiteren Verlauf des Verfahrens juristisch nicht angreifbar zu werden.
Linkohr war mit den Kollegen der Spurensicherung angerückt. Außerdem war ein Schlosser ausfindig gemacht worden, den die Geislinger Kriminalisten schon häufiger bemüht hatten, wenn verschlossene Wohnungstüren möglichst behutsam geöffnet werden mussten. Sie hatten zunächst noch versucht, den Hausbesitzer zu erreichen, doch wohnte der irgendwo in Norddeutschland und konnte niemanden benennen, der einen Schlüssel für Ringeltaubes Einliegerwohnung hatte. Auch das ältere Ehepaar, das den übrigen Teil des schmucken Häuschens gemietet hatte, konnte nicht weiterhelfen. Die beiden Rentner erklärten jedoch, dass sie Frau Ringeltaube schon längere Zeit, vermutlich drei oder vier Tage, nicht mehr gesehen hätten. Noch vor einem halben Jahr sei dies anders gewesen, da sei zweimal die Woche ein Herr aus Ulm gekommen und habe sie besucht. Auf Nachfrage mussten die älteren Leute aber einräumen, dass sie nicht genau sagen könnten, ob dieser Mann tatsächlich aus Ulm war. Er habe einen Mercedes mit Ulmer Kennzeichen gefahren. Mehr wussten die beiden nicht.
Linkohr bat die Eheleute, auf Distanz zu bleiben, als sich die
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