Notbremse
Männerstimme vor, die einen entnervten Tonfall hatte: »Sylvia, wo bist du denn? Melde dich. Dringend. Wir müssen unbedingt miteinander reden. Dringend.« Der Anrufer hatte grußlos aufgelegt. Linkohr sah noch ein paar Sekunden erstaunt auf das Display. Die Stimme kannte er. Dieser unsympathische Unterton war ihm nicht fremd gewesen. Er notierte sich die Nummer, die das Display anzeigte. Es war eine mit Ulmer Vorwahl.
Linkohr drückte noch ein paar Tasten, um sich die Nummern der zuletzt geführten und angenommenen Gespräche anzeigen zu lassen. Es waren jeweils zehn aufgelistet. Auch diese notierte er sich – mit den jeweiligen Uhrzeiten. Der Elektronik, so dachte er, entging heutzutage nichts mehr. Es wurde zunehmend schwieriger, Spuren zu beseitigen. Ein Täter musste an tausend Dinge denken – an viel zu viel, als dass es noch möglich sein konnte, ein perfektes Verbrechen zu verüben. Spuren zu beseitigen, las sich in Kriminalromanen immer so einfach. Doch wer in Stress und Hektik war, der konnte nicht lange nachdenken, dem waren ohnehin die Gedankengänge gelähmt – und dem unterliefen deshalb Fehler, die ihn früher oder später überführten. Häberle hatte dies den jungen Kollegen oftmals zu bedenken gegeben. Deshalb sei es wichtig, einen Tatort penibel zu dokumentieren.
Der junge Kriminalist blieb noch für einen Moment stehen und besah sich die Möbel, bemerkte einen kleinen Flachbildschirm auf dem Unterteil der Regalwand, darüber einige aufgereihte Taschenbücher. Sie waren nach Sachgebieten sortiert: Softwarebeschreibungen, Kriminalromane, betriebswirtschaftliche Themen und Reiseführer. Linkohr schob die einzelnen Bücher auseinander, um die Cover erkennen zu können. Zwischen den Reiseführern erregte ein knallroter Umschlag seine Aufmerksamkeit. Es war ein Reiseführer für Peking.
Das Taxi fuhr einigermaßen zügig auf einer der mittleren Spuren. Hocke hatte sich mit einem knappen »Hallo« gemeldet. Egal, wer da jetzt anrief, er konnte seine Rettung sein, falls er in eine Falle geraten war.
»Hier spricht die Kriminalpolizei in Geislingen. Wer sind Sie?«, hörte er eine Männerstimme und war innerlich wie elektrisiert. Kriminalpolizei. Hatte der Mann wirklich ›Kriminalpolizei‹ gesagt? Hocke war für einen Moment sprachlos. Sollte er reden? Auf Deutsch? Konnte er sich sicher sein, dass keiner der Männer im Auto Deutsch verstand? Der Chauffeur zeigte keine Regung. Ihn schien das Telefonat überhaupt nicht zu interessieren. Der Mann im Fond, so glaubte Hocke zu erkennen, bewegte sich nicht.
»Hier spricht Hocke«, entschloss sich der Deutsche zu Angaben. »Dieter Hocke …« Doch da drangen drei Piepstöne an sein Ohr und unterbrachen seinen gerade erst begonnenen Redefluss. Der Akku hatte sich verabschiedet. Er war vom Netz. Und er wusste nicht mal, ob der andere in Geislingen noch seinen Namen mitgekriegt hatte. Ausgerechnet jetzt gab dieser verdammte Akku den Geist auf. Hocke spürte, wie er von zwei Seiten kritisch beäugt wurde. Er steckte das tote Gerät wieder in die Innentasche des Jacketts zurück und lächelte verlegen dem Chauffeur zu, der das Problem offenbar erkannt hatte und mitleidig mit den Achseln zuckte.
Die Fahrt, die einen ungewissen Ausgang nehmen konnte, ging weiter. Hockes Unruhe nahm zu. Wenn das Taxi jetzt nicht bald von dieser mehrspurigen Straße abbog, war etwas faul. Es dauerte noch zwei endlose Minuten, bis der Fahrer den rechten Blinker setzte und sich ziemlich zügig über zwei dicht befahrene Spuren hinweg seinen Weg bahnte. Nach 200 Metern bog er in eine kleinere Straße ab, an die sich Hocke zu entsinnen glaubte. Sie war von Bäumen gesäumt und führte an deutlich niederer Bebauung vorbei, wo auf den Gehwegen immer wieder Gruppen von Menschen standen. Hocke atmete auf. Ums nächste Eck musste die Einfahrt zum umzäunten Hofbereich des Hotels auftauchen.
Und tatsächlich. Er hatte recht. Das Taxi fuhr durch ein schmales Tor, das beidseits von einer Mauer umgeben war, als sei es einst als Pforte gedacht gewesen, der jetzt aber keine Bedeutung mehr zukam. Die Scheinwerfer erhellten das schmucklose Hotelgebäude, als der Mann auf dem Rücksitz etwas sagte, dem Fahrer einige zusammengerollte Geldscheine über die Schulter reichte und bereits die Wagentür öffnete, während das Auto noch ausrollte. Kaum hatte das Fahrzeug gestoppt, verschwand der Mann irgendwo in der Dunkelheit. Hocke nahm zur Kenntnis, dass der Fremde nicht zum Hoteleingang
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