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Notizen aus Homs (German Edition)

Notizen aus Homs (German Edition)

Titel: Notizen aus Homs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Präsident bis in alle Ewigkeit. Wir können uns keine Alternative vorstellen.
    Außer Nordkorea gibt es keine Entsprechung zum syrischen Regime. Sie haben uns eingetrichtert, wir seien ein großes Volk, wir würden für die Araber, gegen Israel, gegen den Imperialismus kämpfen. Aber sie haben uns verkauft, sie haben die Araber verkauft, die Palästinenser, den Golan. Die ganze Elite ist im Ausland, warum? Sie haben verstanden. Und in Syrien ist es verboten, zu verstehen.«
    Am Anfang wäre Abu Abdallah aus Mangel an Information mit allem einverstanden gewesen, nur um das Regime loszuwerden. In den ersten Monaten, angesichts der Massaker, hätte er eine ausländische Intervention akzeptiert. Er hatte kein politisches Bewusstsein. Heute ist er zurückhaltender. Er will nicht ein Übel durch ein anderes Übel ersetzen.
    Er glaubt auch, dass Frankreich, die USA, der Westen die Repression zulassen, ohne einzugreifen, weil sie Syrien schwach halten und die israelischen Interessen schützen wollen. Sie wollen kein starkes, demokratisches Syrien mit mächtiger Armee.
     
    Ein Gedanke von vorhin, im Transporter: das doppelte soziale Netz. Gegenüber dem Polizei- und Sicherheitsnetz des Regimes haben die Leute ein Gegennetz installiert, bestehend aus zivilen Aktivisten, Würdenträgern, religiösen Figuren und, immer mehr, militarisierten Kräften, den Deserteuren, die die FSA bilden. Dieses Gegennetz hält dem anderen Netz stand, umgeht es und absorbiert es zunehmend (Deserteure, Informanten innerhalb der Armee und der mukhabarat ). Wenn man durchs Land fährt, wird dieses Netz sofort sichtbar, an den Fahrzeugwechseln, den Zwischenstationen, den safe houses , am ständigen telefonischen Austausch, mit dem man sich über die Entwicklung der Situation vor Ort informiert.
    Man könnte sagen, dass sich die syrische Gesellschaft verdoppelt hat, dass im Land inzwischen zwei Parallelgesellschaften existieren, die in tödlichem Konflikt miteinander stehen. Gewiss gab es vor der Revolution passiven Widerstand gegen das Regime, aber die Leute blieben durch zahlreiche Verbindungen in das allgemeine Netz integriert. Jetzt hat sich das zweite Netz vollständig vom ersten getrennt, nach und nach alle Verbindungen gekappt. Doch die beiden können nicht nebeneinander existieren, es ist ein Kampf auf Leben und Tod. Eines der beiden muss aufgelöst, seine Bestandteile müssen zerstört oder vom anderen absorbiert werden.
     
    *
     
    14:30 Uhr. Der Weg ist frei. Abu Abdallah und Ibn Pedro fahren los, um die Strecke zu überprüfen, sich zu vergewissern, dass es keine Straßensperren gibt.
     
    15 Uhr. Sie kommen zurück: Jallah . Wir lassen das Gepäck stehen, sie werden es heute Abend holen. Ibn Pedro fährt in einem ersten Kleintransporter mit Fahrer vorneweg; wir folgen fünf Minuten später mit Abu Abdallah. Sie haben ein relativ schwer zu verstehendes System für den Fall einer mobilen Straßensperre, denn das Telefon ist außer Betrieb, kein Netz. Das erste Fahrzeug wird durchfahren, dann die Warnung weitergeben, und ein Motorrad wird uns benachrichtigen. Doch es passiert nichts. Wir kommen in einem christlichen Dorf an, das von einer riesigen Chemiefabrik überragt wird. Als Abu Abdallah das Fenster öffnet, dringt ein ekelhafter, beißender Gestank ins Autoinnere: »Da sind wir nun ganz in der Nähe eines wunderschönen Sees, den die Touristen besuchen, und sie stellen eine Chemiefabrik hier hin. Mit dieser Fabrik und der Raffinerie hat diese Region die höchste Krebsrate von ganz Syrien.« Der See funkelt in der Ferne, eine zarte blaue Zunge hinter dem Dorf. Graue Wolken am Horizont, ein feiner Regen setzt ein, darunter leuchtet die Sonne hindurch und bringt die matschige, chaotische Landschaft zum Strahlen, die von diesem Industriedinosaurier mit einem riesigen Haufen gelben Pulvers beherrscht wird. Wir haben den See südlich umrundet und fahren nun an seinem Ufer entlang in Richtung Baba Amr und Homs.
    Vor uns taucht die autostrada Damaskus–Homs auf, erhöht auf einem hohen Damm und mit ziemlich regelmäßigem Verkehr in beide Richtungen. 2009 hatte ich mit meiner Familie diese Autobahn genommen, als wir zum Krak des Chevaliers fuhren, der sich etwas weiter vorn an der Straße nach Tartus befindet. Kurz bevor wir ihn erreichen, biegen wir, nachdem wir einen Mann gegrüßt haben, nach links ab. Ibn Pedro wartet ein Stück weiter vor einem Haus auf uns. Wir steigen aus, wir werden zu Fuß weitergehen.
    Der Mann, den wir gegrüßt

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