Notizen aus Homs (German Edition)
kommen. Und es wird Krieg gegen den kufr [ die Ungläubigkeit ] geben, der sich dann nicht mehr auf die syrische Frage beschränkt. Die Dinge werden uns entgleiten. Und der Kampf gegen Israel wird wieder aufgenommen werden.«
Abderrazzaq Tlass erklärt, dass sie das tun werden, um den Westen unter Druck zu setzen, damit der Westen interveniert, bevor der Krieg auf die gesamte Region übergreift.
Das ist natürlich eine sehr naive Sichtweise. Er glaubt, dass sie Europa und die USA so zur Intervention zwingen können. Sie sind alle davon überzeugt, dass die USA Assad an der Macht halten, um Israel zu unterstützen. Sie hoffen, sie in Zugzwang zu bringen, indem sie damit drohen, ein Chaos in der ganzen Region anzurichten.
»Wir haben alles versucht und nichts hat funktioniert. Diesen Freitag haben wir den ›Freitag vor der Ausrufung des Dschihad‹ genannt. Seit zwei Monaten versuchen wir, den Aufruf zum Dschihad hinauszuzögern, aber eine Mehrheit hat dafür gestimmt. Wir stehen im Dienst des Volkes, wir müssen uns fügen.«
Bei der Demonstration hatte man mir, wie weiter oben erwähnt, gesagt, dieser Freitag sei den »politischen Gefangenen« gewidmet. Dieses System der Benennung der Tage, insbesondere der Freitage, findet auf diversen Foren statt, auf Facebook und anderen Sites, und stützt sich auf die Stimmen der Internetnutzer. Es scheint konkurrierende Seiten zu geben, daher die Inkohärenz der beiden »Namen« dieses Freitags. Die geringe Zahl der Abstimmenden trägt dazu bei, dass die Sache wenig repräsentativ ist für die öffentliche Meinung im revoltierenden Syrien.
Abderrazzaq Tlass beharrt darauf und weist darauf hin, dass die Demonstranten heute » Labaik, labaik, labaik ya’Allah! « gerufen haben. Das ist eine rituelle Formel für die Ankunft in Mekka, sinngemäß: »Gott, hier bin ich!« ( Labaik bedeutet: »Wir unterwerfen uns dir.«) Es bedeutet also, dass sie bereit sind, in den Tod zu gehen, dass sie bereit zum Dschihad sind.
Als wir gehen, begleitet Abderrazzaq Tlass uns und singt: »Gott, lass uns in den Dschihad ziehen.« Allseits großes Gelächter.
Auf der Straße stellen wir ihm, bevor wir uns trennen, noch einmal die Frage nach seinem Verhältnis zu Riad al-Assaad: »Die FSA ist im Inneren [ des Landes ], das ist alles.« Er will damit sagen: Wir nehmen keine Befehle von außerhalb entgegen. »Er und ich gehorchen beide dem Volk. Wenn wir uns dem widersetzen wollen, sind wir Verräter.« Was die Ausrufung des Dschihad angeht, kennen sie Riads Meinung nicht. Sie haben große Kommunikationsprobleme.
Ein anderer wichtiger Punkt, der während der Unterhaltung nicht angesprochen wurde, ist die Tatsache, dass Tlass ein entfernter Verwandter von Mustafa Tlass ist, dem allmächtigen Verteidigungsminister, der dreißig Jahre lang die rechte Hand von Hafiz al-Assad war. Selbst wenn Tlass seit 2006 im Ruhe stand ist, bleibt seine Großfamilie, die auf allen Ebenen der Armee präsent ist, einer der mächtigsten sunnitischen Clans des Landes, und das Überlaufen eines seiner Mitglieder stellt eine bedeutsame Zäsur für das Regime dar. Der Fernsehsender Addounia TV hat am 9. Februar den Tod von Abderrazzaq Tlass verkündet, aber die FSA hat das nie bestätigt.
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Wenig Leute, als es Abend wird. Eiseskälte. Mit Ausnahme einiger großer Straßen stehen die Gebäude sehr dicht, kaum Platz genug, dass zwei Autos aneinander vorbeifahren können, keine Bürgersteige. Bedrückende Atmosphäre, wenn man durch die Straßen fährt, wie auf der Sohle einer engen Schlucht, Durchschlängeln zwischen den geparkten Autos, den Motorrädern und den Menschen.
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16.30 Uhr. Muhammad Abu Sajjaf, Koordinator der humanitären Hilfe von Baba Amr. Arbeitsloser Elektroingenieur, Freiwilliger, der die Listen mit den bedürftigen Familien aufstellt und die Verteilung der Hilfen koordiniert. Kurzgeschnittener graumelierter Bart, Handschuhe ohne Finger, weiße Wollmütze, weiß-grauer Trainingsanzug unter einer schwarzen Lederjacke.
Er erklärt uns: Kursgewinn des Dollars, 30 %. Preissteigerung der wichtigsten Lebensmittel, 20 %, da gefährlich, sie in die Viertel zu bringen. Preissteigerung insgesamt deshalb: 50 %. Vorher lieferten die Fabriken ihre Produkte. Jetzt müssen die Groß- und Zwischenhändler sie selber abholen.
Beispiel Gasflasche. Normalerweise kostet eine 250 syrische Lira [ 2,80 Euro nach aktuellem Kurs ]. So viel kostet sie in Zahra, Akrama, Nezha (regimetreuen
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