Notizen aus Homs (German Edition)
er konnte nicht behandelt werden, weil die Armee ins Gebäude eindrang. Sie haben es geschafft, ihn durch eine Geheimtür in eine benachbarte Wohnung in Sicherheit zu bringen; bis ein Arzt da war, war es zu spät. Sie haben ihn im engsten Kreis beerdigt, nur zu viert. Bei der Gelegenheit haben sie, aus Angst vor den Scharfschützen, das Loch in die Friedhofsmauer geschlagen, durch das wir vorhin durchgeschaut haben.
Der Junge erzählt ganz ruhig, ohne erkennbare Gefühlsregung, mit schwacher Kinderstimme. Selbst hier im geheizten Zimmer behält er seine Handschuhe und seine Mütze an. Er hat einen sehr gelben Teint, aber ich weiß nicht, woran das liegt.
Sein kleiner Bruder Aamir, 4 Jahre alt, ist auch da. Mohammad zu seinem Bruder: »Was will das Volk?« – Aamir mit piepsiger Stimme: »Das Volk will den Sturz des Regimes!« Mohammad geht seit vier Monaten nicht mehr zur Schule. Militärs und schabbiha sind gekommen und haben vier Kinder mitgenommen. Der Lehrer hat protestiert, aber sie haben ihn bedroht: »Kümmer dich um deine eigenen Angelegenheiten und halt den Mund!« Es waren sehr viele. Mohammad kennt die Namen der verhafteten Kinder nicht und weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Zu dem Zeitpunkt wollten die Schulkinder gerade demonstrieren gehen; die vier müssen deswegen denunziert worden sein.
Raed fragt ihn: »Woher wusstest du, dass das schabbiha waren?« – »Sie hatten dichte Bärte und rasierte Schädel.« Raed zufolge ist das der typische Look der schabbiha , ein alawitischer Gangsterlook.
Am Ende können wir heute nicht nach Khaldije zurückkehren. Wir werden in dem Haus in Safsafi schlafen, in der Altstadt, in der Nähe der FSA-Posten. Das Problem sind unsere Sachen. Wir hätten sie bei uns behalten sollen, aber niemand hat uns darauf hingewiesen. Der Fahrer, der sie bringen könnte, hat keine Zeit.
Es ist 16 Uhr, und wir haben immer noch nichts gegessen. Das verbessert meinen Zustand nicht. Um 15 Uhr sagte Omar: » Wallah , es ist fertig, alles fertig«, ich erinnere ihn daran. Abu Bilal: »Er ist ein Profi der Information. Er lügt wie gedruckt.« Erneutes Gelächter.
Diskussion über den Dschihad. Sie wollen keinen Aufruf zum Dschihad. Das würde die Krise nur vergrößern. Es würde sie internationalisieren, Saudi-Arabien, den Iran etc. mit reinziehen. Lauter ausländische Gruppen würden herkommen und sich hier bekämpfen, die Revolution würde dem syrischen Volk entgleiten.
Wir: »Das haben wir Abderrazzaq Tlass versucht zu erklären. Aber er hat nicht zugehört, er wollte es nicht verstehen.«
Raed: »Ihr habt ein ausgeprägteres politisches Bewusstsein als die Militärs.«
Sie wollen eine Intervention der NATO.
Endlich, um 16.30 Uhr, essen wir. Inzwischen ist Mohammads Vater eingetroffen und isst mit, ein würdevoller Herr mit Schnurrbart und weißen Haaren, der seine Traurigkeit verbirgt. Das Essen, das entgegen Omars Versprechungen lange auf sich hat warten lassen, ist herrlich: Hähnchen in Sauce, Bulgur mit Fleisch, weiße Bohnen in Sauce, die man über den Bulgur gießt, weißer Rettich, grüne Zwiebeln, Oliven.
*
Danach kehren wir zurück zu dem Haus der Aktivisten in Safsafi, im alten Teil von Homs. Wir finden einen Soldaten der FSA, der ein Auto hat, und er fährt uns die große Straße hoch. An ihrem Ende steht eine Moschee, die sie uns zeigen wollen, von Kugeln durchsiebt. Es ist schon dunkel, und sie richten die Autoscheinwerfer auf sie, damit wir sie sehen können. Der Scharfschütze steht etwas weiter oben auf der rechten Seite; der Soldat stellt sich an die Ecke und ruft, so laut er kann: »Na los, du Zuhälter, schieß!« Trotz wiederholter Rufe und Beleidigungen schießt der Scharfschütze nicht. Dann fahren wir wieder. Wir nehmen eine Querstraße, die lang und schmal nach unten führt, der Soldat macht die Scheinwerfer aus und beschleunigt, die Straße ist eng und wir fahren in vollem Tempo, der Mann neben mir murmelt: » Bismillahi ar-rahman ar-rahim «, dann rasen wir wie der Blitz über eine breite Straße, fast unsichtbar im Grau der Nacht, und stürzen uns in eine gegenüberliegende kleine Gasse, in der der Soldat abrupt bremst und die Scheinwerfer anmacht. Wir kommen zwei Meter vor den Mauern einer Moschee zum Stehen; auf einem Pfeiler vor uns sind mehrere Reifen angebracht: »Für die Autos, die nicht rechtzeitig bremsen.« Alle prusten los.
Die Straße, die Bab Sbaa von Safsafi trennt, ist in der Schusslinie einer
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