Notizen aus Homs (German Edition)
Allahu akbar! «. Sie kommen näher, dann entfernen sie sich.
Raed, der zum FSA-Checkpoint gegangen war, kommt zurück: »Es knallt überall. Das sind keine Scharmützel mehr, das ist Krieg.«
Freitag, 27. Januar
Safsafi – Bab Drib – Safsafi
10 Uhr. Aufwachen. Die Männer schlafen überall um mich herum auf kleinen Matratzen auf dem Boden; Omar Telawi schläft seit 14 Stunden, fast ohne sich zu rühren. Es hat einen Großteil der Nacht geregnet, aber jetzt hat es aufgehört. Es ist ruhig. Keine Schüsse. Draußen ist alles durchgeweicht, nur in der Ferne hört man einige Schüsse, das ist alles. Es fängt wieder an zu regnen.
Mittag, Zeit der Freitagsdemonstrationen. Die Aktivisten trennen sich: Omar geht nach Bab Sbaa, Abu Bilal nimmt uns mit nach Bab Drib, mit Mahmud, in die Hanableh-Moschee, wo wir gestern angehalten hatten, um die sfihas zu bestellen, die wir nie haben essen können. Die Leute des Viertels organisieren eine neue Demonstration, und die Aktivisten werden sie live auf Aljazeera ausstrahlen, um sie zu unterstützen. Vor der Moschee sind die Bäume mit einer riesigen Revolutionsfahne bedeckt, schwarz-weiß-grün mit roten Sternen. Wir gehen zu Fuß durch den Regen, es ist nicht weit von unserem Quartier. Als wir ankommen, wird gerade zum Gebet aufgerufen; in einem Laden gegenüber der Moschee zwitschern und singen Kanarienvögel in Käfigen in allen Farben im Chor mit dem Imam.
Die Moschee füllt sich zur Predigt. Der Imam betont, wie wichtig es ist, dass die Leute sich gegenseitig unterstützen. Man muss denen zu Hilfe eilen, die leiden. Er erinnert an die Tradition des Propheten und seiner Jünger, die sich geopfert haben für die Leidenden. Abu Bakr hat all seinen Reichtum den Bedürftigen gegeben. Der Ton geht in die Höhe, wird schrill, hysterisch. Die Menge brüllt im Chor »Allahu akbar!«. Der Imam spricht von all dem Blut, das im Viertel vergossen wird: »Es ist unser Blut, all die getöteten Seelen sind unsere Kinder. Dennoch sagen wir zu all unseren Unterdrückern, zu all unseren Tyrannen, zu all denen, die maßlos sind: Was ihr auch tut, der Sieg wird unser sein.«
Uns frappiert während dieses Freitagmittagsgebets, wie sehr dieses Ritual dazu dient, die Gemeinschaft zusammenzuhalten und zu einen. Hier wird der kollektive Wille gebildet und freigesetzt, fokussiert durch die Predigt. Im Unterschied zum christlichen Gottesdienst in Europa, den nur eine Handvoll Gläubige besuchen, nimmt hier das ganze Viertel teil, Erwachsene und Kinder – zumindest die Männer, also diejenigen, die die Entscheidungen fällen, welche die Gemeinschaft betreffen. Es ist tatsächlich ein Mechanismus zur Bildung einer »öffentlichen Meinung«, an der auf die eine oder andere Weise selbst jene teilhaben, die nicht einverstanden sind oder die nicht zum Gebet kommen. Dank solcher Mechanismen kann man von einem »kollektiven Willen« sprechen.
Ende des Gebets. Wie immer lauter kollektiver Ruf » La ilaha ilallah! «, den alle Gläubigen wiederholen, während sie aus der Moschee strömen und in einer fließenden Bewegung, ohne das Gleichgewicht zu verlieren (im Gegensatz zu mir), wieder in ihre Schuhe schlüpfen. Die Demonstration formiert sich. Ich gehe über die Straße und will von einem Obststand aus ein Foto machen. Sofort werde ich von zwei schnauzbärtigen Männern um die vierzig angepöbelt. Ich kann meinen Fotoapparat gerade noch wieder einstecken und hole mein Handy raus, um Raed anzurufen, damit er kommt und die Sache erklärt, während ich gleichzeitig immer wieder » Sahafi franssawi, sahafi franssawi « 52 sage, zwei der wenigen Wörter, die ich kenne. Sofort entreißt mir einer der beiden Schnauzbärtigen brüllend das Handy und packt mich am Handgelenk. Wir fangen an zu schreien, ich versuche Raeds Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, der ein Stück weiter weg fotografiert, endlich kommt er. Weiteres Anbrüllen, die beiden Typen bleiben stur, Raed wird mehr oder weniger auch von ihnen festgehalten. Einer holt einen bärtigen Soldaten, der Fragen stellt, Raed schaut sich nach Abu Bilal um und erklärt, dass wir mit ihm gekommen sind. Endlich erkennt uns ein Soldat und macht ihnen ein Zeichen, dass es okay ist. Der Soldat gibt mir mein Handy zurück und entschuldigt sich.
Ein Mann nimmt mich in einen Rohbau mit, der schon teilweise bewohnt wird, damit ich von oben zuschauen kann. Der Regen hat endlich aufgehört und die Sonne blitzt zwischen den Wolken
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