Notizen aus Homs (German Edition)
Wolken und beleuchtet die Dächer, während es immer noch regnet. Es ist ruhig, auf der Straße spielen Kinder. Wir treffen einen bärtigen Soldaten, einen Polizisten, der wegen der Übergriffe des Regimes übergelaufen ist: »Das Massaker von gestern ist ein Beispiel dafür, warum wir kämpfen.« Sein elfjähriger Sohn trägt seine Kalaschnikow.
Schöner langer Spaziergang durchs Viertel. Das Licht verändert sich pausenlos, während die Wolken vorbeiziehen. In den Pfützen spiegeln sich der Himmel und die Fassaden der Häuser. Es fallen vereinzelte Schüsse, ein paar Detonationen, aber im Großen und Ganzen ist es ruhig. Auf einem Platz, auf dem Kinder spielen, reden wir mit FSA-Soldaten. Einer von ihnen führt uns ein Stück weiter, zu einem Rohbau, in den wir über eine Mauer hineinklettern. Wir steigen vorsichtig aufs Dach: Durch die Treppenhausöffnungen sieht man die Zitadelle, ganz nah, keine 200 Meter entfernt. Wir betrachten sie um die Ecke herum, eine ausgedehnte Masse mit grünem glänzendem Gras bedeckter Erde, versetzt mit Mauerfragmenten, darüber eine riesige syrische Fahne, die ich heimlich fotografiere: Es lohnt ja nicht, sich für ein Porträt von Assad eine Kugel einzufangen, scherzt Raed. Wir gehen weiter und treffen Bewohner und FSA-Soldaten. Wenn man das Viertel so durchschreitet, erscheint es winzig, man kann keine 500 Meter gehen, ohne auf eine große Straße zu stoßen, die von einer Straßensperre, einer Schussachse beherrscht wird.
Wir besichtigen die Straße, die nach Bab Sbaa führt, die mit den Reifen am Ende, die wir am Vorabend hinuntergerast sind. Mehrere Autos fahren mit Vollgas in Richtung Bab Sbaa, ohne dass auf sie geschossen wird. Die Querstraße bietet eine Schussachse zur Zitadelle hin, man muss dicht an der Mauer bleiben und aufpassen. Wir gehen in Ruhe zurück.
Le Monde hat unsere Informationen von gestern auf Seite 3 gebracht, mit einem Appell und einem von Raeds Fotos auf der Titelseite. Sie bitten ihn um weitere Informationen, um morgen den Bericht über das Massaker vertiefen zu können.
Raed wird später in der Nacht einen langen Bericht seiner ges trigen nächtlichen Fahrt durch die Stadt verfassen, der in Le Monde vom Sonntag, 29., bis Montag, 30. Januar veröffentlicht werden wird, mit einem seiner Fotos von den elf Leichen der massakrierten Familie. Am Samstag, dem 28., hatte Le Monde bereits ein erstes Foto veröffentlicht, mit einem nicht gezeichneten Artikel, der in Paris auf der Grundlage der Informationen verfasst worden war, die ich ihnen gemailt hatte.
Lauter Streit unter den Aktivisten. Andschad schmeißt seinen Fotoapparat und sein Handy auf den Tisch. Omar Telawi hat ihn für seine Untertitelung der YouTube-Videos vom Vortag kritisiert. Offenbar haben viele Leute wegen eines unklaren Satzes gedacht, Omar wäre tot.
Dusche bei Andschad. Prächtiges Gebäude, gleich neben dem Haus, in dem wir wohnen (das sehr viel weniger prächtig ist), mit Pflanzen auf der Marmortreppe; bürgerliche Wohnung mit schönen Möbeln, makellos sauber, gute Teppiche. Der Vater empfängt mich im Wohnzimmer am Ofen (die Heizung – die es hier gibt, eine Seltenheit – ist nicht an, sie verbraucht zu viel Heizöl). Er hat lange in Brüssel gelebt, erinnert sich aber nur an ein paar Worte Englisch. Die Dusche, die erste seit Baba Amr, ist ein wunderbarer Moment. Raed duscht danach, wir trinken Tee. Als wir gehen, klopft Andschad mit dem Fingernagel an die Wohnzimmertür, um die Frauen vorzuwarnen, die wir nie zu Gesicht bekommen. Selbst das Bürgertum hält die purdah ein.
Der Vater schenkt mir eine sehr schöne Gebetskette aus blauem Stein. Auf Arabisch sagt man misbaha , von dem Wort subhan , das man ausspricht, während man die Perlen durch die Finger gleiten lässt: subhanallah , »Gepriesen sei Gott«. Das persische Wort tasbeh , das ich immer verwendet habe, ist aus der gleichen Wurzel gebildet.
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2.30 Uhr morgens. Ich kann immer noch nicht schlafen. Im vorderen großen Zimmer, dem der FSA, wird seit Stunden gesungen. Ich stehe auf und sehe nach. Um die zwanzig Männer sitzen ringsum an den Wänden, rauchen Zigaretten und trinken Tee oder Mate und singen abwechselnd, a cappella . Ich verstehe natürlich die Worte nicht, aber es klingt wie Liebeslieder, vielleicht auch Lieder über die Stadt. Die Stimmen zittern, stöhnen, seufzen; wenn einer aufhört, fängt ein anderer an. Ein Mann insbesondere führt den Gesang an, ein
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