Notizen aus Homs (German Edition)
von Omar Khayyam in einer Bearbeitung von Umm Kulthum gesungen. Raed hat ein bisschen mit ihnen gesungen. Der tarab , die Gefühlsregung, die einen ergreift, wenn man Musik hört.
Die Hustenanfälle werden jeden Tag schlimmer. Sie plätten mich völlig, lassen mich für lange Sekunden leer und zitternd zurück.
Serie von Salven, während wir den Kaffee trinken. Es wird von einem Gebäude neben dem Al-Katib-Friedhof geschossen, in einer Straße in Khaldije. In diesem Augenblick hört man Schreie. Ein Trauerzug stürmt vorbei, Männer tragen einen Katafalk, skandieren » La ilaha ilallah! «, umringt von bewaffneten Männern, die in die Luft schießen. Der Tote im Katafalk ist nicht zu sehen unter den ganzen Plastikblumen. Er wurde von einem Scharfschützen getötet. Der Trauerzug steuert unter dem lauten Knallen der Schüsse auf die Moschee zu. Ich gehe mit meinem Kaffee zurück, während Raed dem Zug hinterherläuft, um Fotos zu machen.
Die Trauerzüge, die ich hier gesehen habe, bringen nicht Trauer und Besinnung zum Ausdruck, sondern Wut und heftigen Schmerz über den Verlust.
Die Menge ist ein Stück weiter stehen geblieben, vor der Moschee, und ich gehe mit einem Jungen hin, der mir die Mörser-Einschlagstelle vom Donnerstag zeigt, in einer Wohnung in der obersten Etage, die auf den Platz hinausgeht. Raed ist schon in der Moschee. Der Katafalk steht in einer Ecke, umringt von aufgewühlten Leuten und Schaulustigen. Zwei in Tränen aufgelöste Männer, sicher ein Bruder und der Vater. Das Opfer ist ein schöner junger Mann, robust, kräftig, vom Tod in eine gelbliche Wachsfigur verwandelt. Raed stellt mir Abu Bakr vor, einen Aktivisten des Viertels, den er von früher kennt. Abu Bakr erklärt, dass der Mann heute Morgen um 8 Uhr, als er zur Arbeit ging, von einem Scharfschützen erschossen wurde. Er zeigt uns die Videos, die er gedreht hat, den blutüberströmten Leichnam, dessen Brustkorb von einer Kugel durchbohrt wurde, die Mutter und die Schwester, die ihn fassungslos rütteln, von einer hysterischen Trauer völlig überwältigt.
Der Gnadenmoment ist von kurzer Dauer gewesen.
Raed bleibt, um die Zeremonie und die Beerdigung zu fotografieren. Ich kehre zur Autowerkstatt zurück. Der Friseur, bei dem ich mich rasieren lassen will, hat immer noch geschlossen. Ich gehe also zurück zur Moschee. Die Zeremonie ist fast zu Ende – die Predigt für den Toten war laut Raed aufwühlend: »Der Imam hat die Gläubigen wirklich vor die Tore [ des Paradieses ] geführt« –, und die Leute bereiten sich auf den Auszug des Toten vor. Ein junger Mann wird von anderen auf die Schultern gehoben und skandiert mit erhobener Hand den ersten Ruf: » La ilaha ilallah! « Dann folgt ein Ruf auf den anderen und wird von den Gläubigen mit lauter Stimme aufgegriffen, während der Anführer ein schönes gerahmtes Porträt des Toten schwenkt, das in einem Fotostudio gemacht wurde und sicher bei ihm zu Hause an der Wand hing. »Millionenfach kommen wir als Märtyrer ins Paradies!« Danach zieht der Trauerzug über den Platz, gefolgt von FSA-Soldaten, die lange Kalaschnikow-Salven in die Luft feuern. Die Kinder rennen zwischen den Füßen der Leute herum, um die noch warmen Patronenhülsen einzusammeln. »Wir sind alle Märtyrer! Alle!«, brüllt der Anführer, also potenzielle Tote. Der Zug geht um den Platz herum bis zur Turmuhr-Kopie, wo der Katafalk unter den Rufen seine Runden dreht. Der Friedhof ist fünf Kilometer entfernt, nur zwei oder drei Personen können die sterblichen Überreste dorthin begleiten, es ist zu gefährlich. Der Friseur hat endlich geöffnet, und ich kann mir die Wangen und den Hals rasieren lassen. An den Kinnbart gewöhne ich mich gerade, er kann noch ein paar Tage nützlich sein.
Vor dem Friseur kurzer Austausch mit einem jungen, sehr ausdrucksvollen Mann. » Schahid : Ahmad.« Er erklärt: » Kannas «, und zeigt eine Kugel im Hinterkopf und eine durch die Brust an. » Umm asch-schahid «, und mit den Händen macht er die Tränen nach, die über das Gesicht der Mutter des Märtyrers laufen. » Haram « 53 , schließt er traurig.
Im lokalen syrischen Dialekt wird kannas , »Scharfschütze«, dschennas ausgesprochen. Plural kannasa .
Gespräch vor Ort mit Marcel Mettlesiefen, einem deutschen Journalisten, der Halbkolumbianer ist. Er ist mit einem Touristenvisum hier, zum vierten Mal. Wir tauschen Infos und Kontakte aus.
Marcel, der kein Arabisch spricht, wurde
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