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Notizen aus Homs (German Edition)

Notizen aus Homs (German Edition)

Titel: Notizen aus Homs (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonathan Littell
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Menschen die vor den Häusern gepflanzten Olivenbäume, um zu heizen; drei Mädchen mühen sich vor einer Tür damit ab, einen Baumstamm durchzusägen. Von den Fenstern aus beobachten uns tuschelnd verschleierte Mädchen. In einem Raum mit kahlen Betonwänden spielen junge Leute Billard. Im Hintergrund eine große vierspurige Straße, die zu einer schari al-maut geworden ist, einer »Todesstraße«. Wir nähern uns vorsichtig der Ecke. Regelmäßig knallen Schüsse; Abu Omar verbietet ein paar jungen Leuten, die auf der anderen Seite stehen, die Straße zu überqueren. Letzten Donnerstag fünf Tote an den verschiedenen Übergängen: drei in den Kopf, einer in den Hals, einer durch die Brust, quer durch. In einer Parallelstraße liegt eine sehr lange Metallstange auf dem Boden, an deren Ende zwei Widerhaken gelötet wurden: Mit ihr werden die Verwundeten – und die Toten –, die mitten auf der Straße niedergeschossen wurden, von der Fahrbahn geholt. Von Abu Omars Wohnung in der ersten Etage blickt man auf die Straße. Die Mauern hin zu den Scharfschützen sind von Geschossen durchlöchert, und er war gezwungen, einen Stock tiefer zu ziehen, wo es sicherer ist. Ich zoome durch eines der Löcher und fotografiere die roten Sandsäcke an der Ecke einer großen Kreuzung, von der aus der Scharfschütze schießt. Auf der Straße sind große schwarze Flecken mit rostigen Drähten zu erkennen, von den LKW-Reifen, die angezündet wurden, damit der Rauch die Straßenüberquerungen verdeckt.
    Etwas entfernt, in einer anderen Parallelstraße, sieht man Autos fahren, eine Familie in einem Suzuki-Kleintransporter, ein Taxi, ein KIA mit FSA-Soldaten. Sie sind nicht sehr sichtbar im Viertel: Zahlenmäßig sind sie hier nicht sehr stark vertreten, und die, die da sind, zeigen sich nicht allzu sehr; der FSA-Checkpoint in der Nähe von Abu Brahims Wohnung ist verlassen. Jedes Mal, wenn ein Auto vorbeifährt, schießt der Scharfschütze, aber immer zwei oder drei Sekunden zu spät. Ein Taxi kommt auf unsere Seite: Wir erklären dem Fahrer, was wir vorhaben, er lehnt ab und dreht um. Vor einem Laden mit Trockenfrüchten und Bonbons, in dem wir Mandeln kaufen, umringt uns eine Menge von jungen Leuten. Ein sehr hübscher Junge in blauer Trainingshose ruft Raed zu: »Sie haben meinen Vater verhaftet, sie haben meinen Bruder verhaftet, sie haben meine Mutter geschlagen! Sie sind gekommen, um mich zu verhaften, wenn sie mich finden, töten sie mich! All das, weil ich rausgehe und sage, dass ich Baschar nicht mag!« Er reckt den Hals und zupft sich an der Kehle: »Meine Stimme ist die einzige Waffe, die ich habe.« Er ist Anführer von Demonstrationen, 17 Jahre alt, und er gibt uns eine Kostprobe seines Könnens, mit ausgestrecktem Arm, begleitet von einem kleinen Trommler, stimmt er Gesänge an, in die alle Kinder um uns herum im Chor einstimmen.
    Auf dem Rückweg kommen wir an einem Haus vorbei, das ziemlich unpassend neben der Fahne einer Fußballmannschaft eine syrische »Regierungsfahne« hängen hat. Man kann es seinem Besitzer nicht mehr vorwerfen: Er wurde vor zwei Monaten von einem Scharfschützen erschossen. Etwas weiter sitzt ein alter Haddsch auf einem Stuhl und raucht in Gesellschaft eines Freundes. Er erzählt uns, wie er 21 Tage lang von den mukhabarat gefoltert wurde, geschlagen, mit Stromstößen traktiert, der Komplizenschaft mit Terroristen angeklagt, er, ein alter, kranker Mann. Wo immer wir stehen bleiben, versammeln sich Leute und wollen erzählen.
     
    Ein paar Worte über unseren Gastgeber, Abu Brahim. Vor der Erhebung war er Fernfahrer, mit nur bedingter religiöser Bildung; heute ist er eine lokale Autorität, sehr respektiert in seinem Viertel, und organisiert die Verteilung der humanitären Hilfsgüter für Bajada vom Erdgeschoss seines Hauses aus. Er ist Sufi, ein Qadiri vom Zweig der Schadili; sein erster Meister war ein tunesischer Scheich, der vor zehn Jahren gestorben ist, dann ein syrischer Scheich, Mitglied des Fatwa-Komitees der Umayyaden-Moschee, Mohammad Abu al-Huda al-Yakubi. Dieser Scheich musste das Land verlassen, nachdem er die Repression angeprangert hatte (»Es ist Sünde, die Leute auf diese Art zu töten«) und in Konflikt mit dem Mufti von Syrien, Ahmad Badr ad-Din Hassun, geraten war. »Das ist nicht der Mufti von Syrien«, präzisiert Abu Omar. »Das ist der Mufti des Regimes, der Mufti von Baschar.«
    Mit seinem rasierten Schädel, dem langen Bart, den er sich unter dem Kinn hat wachsen

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