Notizen aus Homs (German Edition)
lassen, und dem listigen Lächeln erinnert Abu Brahim stark an einen Tschetschenen. Der Vergleich scheint ihm zu gefallen.
Die Naqschbandije ist, wie die im 12. Jahrhundert in Bagdad von Abdul-Qadir Gilani gegründete Qadirije, ein Sufi-Zweig, der im 14. Jahrhundert von Baha-ud-Din Naqschband al-Buchari in der Nähe von Buchara gegründet wurde. Ich habe 1998 sein Grab besucht, und darüber unterhalte ich mich anschließend mit Abu Brahim.
Spirituelle Unterhaltung über die Naqschbandi und das Grab von Naqschband. Abu Brahim stimmt mir zu, dass eine Pilgerfahrt an das Grab von Naqschband großen Wert besitzt – nicht den mechanischen Wert einer Halb-Pilgerfahrt nach Mekka, wie die Usbeken es nennen, sondern einen spirituellen Wert, wenn der Pilger zum Grab des Heiligen geht, um sein Denken zu ergründen und sich spirituell weiterzuentwickeln. Mit Mekka ist es das Gleiche: Wenn man sich wie ein Objekt dorthin begibt, wie das eigene Paar Schuhe oder der Fotoapparat, und unverändert zurückkommt, bringt es nichts.
Er sagt, dass es in Syrien viele Naqschbandi gibt. Es gab einen Naqschbandi-Scheich in Afrin, Hussein Kurku, der vor einigen Jahren gestorben ist, er war ein Freund von al-Daghestani in Zypern, dessen Name mir dank Mischa Roschtschin ein Begriff ist, der einige Zeit bei ihm verbracht hatte.
Abu Brahim definiert den Sufismus so: »Das eigene Innere und Äußere, das batin und das zhahir , sind im Gleichgewicht miteinander. Zhahir ist die Erscheinung, der exoterische Weg, batin ist das Innere, der esoterische Weg. Es sind auch zwei der 99 Namen Gottes.«
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Abu Brahim hat in seinem Computer auch Videos des verschwundenen Belgiers, Pierre Piccinin. Wie er in ebendiesem Zimmer sitzt, erschöpft und ein bisschen erschrocken aussieht und Freunde in Belgien anruft, denen er allen auf den Anrufbeantworter spricht. Fünf Stunden bevor er, ohne ein Wort Arabisch zu sprechen, in einem nagelneuen großen amerikanischen Schlitten aufbrach, einem Ford oder Chevrolet, den er in Damaskus gemietet hatte, hatte es eine große Schlacht zwischen der FSA und der Armee gegeben, genau dort, wo er durchfuhr. »Diesen Mann liebt Gott sehr«, sagt Abu Brahim. Dann: »Wir haben ihn aufgenommen, wir haben ihn verpflegt, beherbergt und wir haben ihn gefilmt. Wir haben ihm gesagt: ›Wenn du zurückgehst und mit dem Regime sprichst und erzählst, wir hätten dich misshandelt, stellen wir die Videos auf YouTube.‹« Sie waren überzeugt, dass das Regime ihn geschickt hatte. Fotos von ihm hier mit Fadwa Suleiman, der alawitischen Schauspielerin.
Raed versucht ihn anzurufen. Etwas später ruft Herr Piccinin zurück. Er ist Wissenschaftler, Professor für Politik und Geschichte. »Ich bin Spezialist für die arabisch-muslimische Welt. Ich spreche kein Arabisch, aber man kommt sehr gut mit Englisch durch.« Seine Linie: »Das syrische Observatorium für Menschenrechte erzählt nur Märchen, Le Monde auch. Ich bin hingefahren, um zu schauen, was sich wirklich abspielt, weil ich den Berichten der Medien und der Aktivisten nicht glaube. Sie behaupteten, es gebe Bombardierungen, und ich habe das Viertel abgesucht. Aber ich habe nichts gesehen. Ich habe objektive Artikel zur Lage verfasst, deshalb habe ich mein zweites Visum bekommen. Natürlich wurde ich begleitet.«
Es geht noch eine Weile in dieser Art weiter, bis Raed ihm schließlich entnervt ins Wort fällt: »Mein Herr, ich würde vorschlagen, dass Sie sich ein anderes Spezialgebiet suchen. Sie sprechen Englisch, spezialisieren Sie sich doch auf die angelsächsische Welt.« Er schreit ihn ziemlich schroff an, der Typ weicht aus: »Wir werden uns doch jetzt nicht am Telefon streiten«, aber er hört natürlich nicht hin. Als Raed ihn auf das Massaker und den Artikel in Le Monde anspricht, antwortet er: »Aber wer hat sie denn getötet?« Um bis hierher zu gelangen, erklärt Abu Brahim, musste er an allen Scharfschützen vorbei, und er hat nichts bemerkt. Es gibt wirklich einen Gott für die Idioten aus Gembloux.
Ich habe später einen Blick auf Pierre Piccinins Elaborate werfen können, in seinem Blog. Er präsentiert eine Version der Ereignisse, die absolut konform mit der Propaganda des Regimes ist und das Töten sowie das Ausmaß der Erhebung so weit wie möglich herunterspielt. Weder sein Kurztrip nach Homs, ohne Dolmetscher und ohne jede Kenntnis der Viertel oder der Konstellation in der Stadt, noch seine Diskussionen mit Abu Brahim und Fadwa Suleiman
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