Notizen einer Verlorenen
Aussichtsposition. Anders, als bei ihrem ersten Versuch, war ich mir heute viel sicherer, dass sie es bei dieser Witterung nicht schaffen konnten, und fühlte mich dementsprechend ruhiger.
Wie sehr ich mich doch irrte!
Denn da tauchten sie plötzlich am Himmel auf.
Ein kleines Flugzeug näherte sich dem für den Absprung vorgesehenen Ort. Alle, die mitgefahren waren und nun vor dem Bauernhaus warteten, sprangen von ihren Stühlen, die sie sich trotz der Kälte nach draußen geholt hatten. Sie klatschten, während ich noch nicht so richtig begriff, was da eigentlich gerade passierte. Wir hatten doch bisher immer nur über den Tod gesprochen, immer nur geplant, ein bisschen Laub und Silikon verteilt und abgewartet! Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass es nun wirklich geschah.
Je näher das Flugzeug dem eigentlichen Ziel kam, desto mehr spürte ich meinen Magen. Würden sie tatsächlich ohne Fallschirm abspringen? Ich hatte niemals versucht, Kevin von seinem Vorhaben abzuhalten. Wer sollte das jetzt noch tun? Ich wischte mir salzige Tröpfchen von der Oberlippe. Kein Horrorfilm der Geschichte hatte je ein so grauenhaftes Gefühl in mir hervorgerufen. Da oben, weit entfernt von uns, öffnete sich, kaum zu erkennen, die Luke des kleinen Flugzeuges und Menschen erschienen, wie winzige Puppen, so klein.
Sie zögerten nicht und sprangen, was bei meinen Vereinskameraden Beifall hervorrief, während mein Herz dieses Klatschen in meinen Ohren fast übertönte. Die Springer bildeten zu dritt eine Formation, indem sie aufeinander zuflogen, und gaben sich die Hände. Ob sie Fallschirme bei sich trugen, konnte man gar nicht erkennen.
Bitte, zieht die Fallschirme! , flehte ich. Bitte!
Doch sie zogen nicht. Vor unseren Augen flogen sie – es war eine Sache von Sekunden – einem freien, niedergemähten Feld entgegen.
»Jetzt müssten sie spätestens ankern!«, bemerkte Buchheim gespannt.
Für einen Moment hielten auch die anderen den Atem an.
Sie ankerten nicht, sondern prallten, ohne sich gegenseitig loszulassen, auf sicher genau der Stelle auf, die sie sich dafür ausgesucht hatten. Es war passiert! Drei Menschen, die ich kannte und mochte, starben grausam vor meinen Augen, ohne, dass jemand half.
Ich glaube, ich war die Einzige, der zu diesem Zeitpunkt der Darbietung schlecht wurde. Alle anderen riefen begeistert durcheinander und sprachen von einer gelungenen Aktion. Sie umarmten sich, in Freude ausbrechend, während ich mit einem Teil meines Mageninhaltes und der Schwärze vor meinen Augen kämpfte. Mühsam riss ich mich zusammen und schluckte und schluckte und spürte gleichzeitig, wie sich noch andere meiner Innereien bemerkbar machten. Ich verschwand in der Hütte, um schnell den Ort aufzusuchen, an dem ich beide Körperöffnungen entleeren konnte.
Hoffnung auf Zukunft
An der Beerdigung von Kevin, Patrick und Tim nahm ich nicht teil. Es gingen ohnehin nur Einzelne zum Friedhof, damit die Gemeinschaft dort nicht als solche in Erscheinung trat. Ich aber, ich hielt mich für längere Zeit vom Haus der Verlorenen fern, tischte Alex gegenüber immer andere Lügen auf, um nicht zu den Treffen mitfahren zu müssen. Es gefiel ihm offensichtlich nicht und nur unter Protest ließ er mich jedes Mal zurück.
Durch den Schock des Vorfalls mit Kevin trat eine Art Ernüchterung bei mir ein, die mir in der Folgezeit vorgaukelte, über den Dingen zu stehen. Es war jedoch eine Selbstlüge, der ich aufsaß, denn in Wirklichkeit beschäftigte ich mich nach wie vor mit allem, was das Haus der Verlorenen betraf. Ich fragte Alex aus, wenn er zu mir nach Hause kam und bei mir übernachtete. Jede Zeitung durchforstete ich nach verdächtigen Artikeln, jede Todesanzeige las ich aufmerksam durch. Bei vielen Dingen, mit denen ich mich am Arbeitsplatz und Zuhause beschäftigte, dachte ich an die Menschen im Haus , an das, was sie wohl gerade machten und vor allem an Alex. Abend für Abend bekniete er mich, doch wieder mit ihm mitzukommen. Das ging so weit, dass er mich das eine Mal regelrecht anflehte und mir das andere Mal vorwarf, ihn nicht mehr zu lieben.
»Wir vermissen dich!«
»Es tut mir leid, aber ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher, was ich wirklich will.«
»Aber warum denn? Was ist denn geschehen, dass du dich abwendest?«
Buchheims Drohung
Eines Abends klopfte es an meiner Wohnungstür. Ich wunderte mich, da Alex sonst eigentlich schellte, aber ich öffnete arglos. Völlig unerwartet stand Buchheim vor mir
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