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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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Soldatenräte, Arbeiterräte. Meine Mutter riet mir, ich sollte Kommerzienrat werden; Kommerzienräte haben sie noch nicht, brauchen könnten sie schon welche.
    Er wechselte die Kleidung, betrachtete sich dabei nackend, freute sich seiner Männlichkeit und Gesundheit – jedoch nicht übermäßig, denn Frauen nahm er zwar gern, wie er auch viel aß. Aber seine Leidenschaft blieb das Glücksspiel. Er hatte übrigens einen wenig regen, ja faulen Freund, der ein ganzer Ableger von ihm war, Motz, dem er einen Gefallen mit den vielen Damen tat, die wegen seines Glücks im Spiel an ihm hängenblieben.
    Elf Uhr, mein Gott, jetzt werden sie sich auf dem Tempelhofer Feld schon versammeln. Er hatte in Holland und Bayern Lebensmittelwaggons stehen, er hatte schon Wiederkäufer dafür, aber alles war auf Sand gebaut, wenn es hier Unruhen gab. Brose nickte im Vorübergehen in die Küche, wo seine Wirtin kochte, dann runter, an das Hallesche Tor zu Motz.
    Sie nahmen sich eine Taxe. Aus vielen Fenstern wehten rote Fahnen. Die Belle-Alliance-Straße war schwarz von Menschen, einfache Menschen, Männer in schäbigen Soldatenmänteln. Brose-Zenk, den steifen Hut fest auf dem Kopf, war ein untersetzter, solide gebauter Mann mit einem braunen, eckig geschnittenen Backenbart, mit dicken, nur manchmal sichtbaren Lippen, – er schmatzte oft und unmotiviert in unbewußter Erinnerung oder Voraussicht eines Vergnügens, – seine hellbraunen Augen leuchteten in reiner Menschenfreundlichkeit.
    Motz war von derselben Größe wie er, aber unter seiner farbigen Weste wölbte sich schon ein Bauch. Auf seinem großen Kopfe balancierte er einen künstlerisch anmutenden schwarzen Schlapphut. Er blickte deprimiert in dem offenen Wagen auf seine vom Schneematsch nassen Stiefel. Jedoch deprimierte ihn nicht der Schmutz, sondern eine seiner hypochondrischen Krisen, die er liebte und pflegte. Zuletzt hatte man ihm von Zuckerkrankheit erzählt und dabei ein Hautjucken als Symptom erwähnt: grade daran litt er seit zwei Wochen; genauer gesprochen, es juckte ihn am ganzen Körper. Er saß betrübt über sich, die Zuckerkrankheit war unzweifelhaft da, Kuchen gab es ja wenig, süßen Likör mehr, er genoß sie beide nur mit fest geschlossenen Augen und mit einem Stoßgebet. Im übrigen sah Motz, grade so wie Brose-Zenk, alias Schröder, völlig anders aus, als er war. Nahm er den Hut ab, so entblößte er eine ungeheure Glatze, eine Stirn, die sich turmartig erhob und nach rückwärts neigte, um in ein schwach entwickeltes, nacktes Hinterhaupt abzufallen. Nur über den Ohren und dem Nacken wehten Büschel braunen Haares. Aber vorn auf dem Gesicht sprang eine Nase wie der Schnabel eines Adlers hervor. Die schwärzlichen kleinen Augen konnten Geist und Kühnheit sprühen. Das Gesicht schloß nach unten mit einer bläßlichen, fast viereckigen Backenpartie ab, aus der das Kinn sich wie ein kleiner Apfel abhob. Die Öffnung unter der Nase und über dem Kinn war ein Mündchen. Und so sah der gedrungene kleine Motz ohne Hut wie ein nicht voll entwickelter Napoleon aus, jedenfalls wie ein Mensch, von dem man noch große Dinge erwarten konnte. Dies war sein Glück, bei manchen. In den ersten Wochen. Nachher enthüllte er sich als völlige Niete, als Mißbraucher seiner dämonischen Grimasse, und die Natur hatte mit ihm ein offenkundiges Betrugsmanöver vor.
    Auch sein Freund Brose war diesem Trick erlegen. Denn Brose war seit Kriegsbeginn auf große Sachen aus, die Projekte aber sollte der kommende Mann, der kühne Draufgänger Motz bringen, etwa ein Projekt betreffend die Ansiedlung der zahllosen Kriegerwitwen auf geschlossenem Terrain, wobei sie ein Vorbild für ganz Deutschland geben, und so ähnlich. Motz zeigte sich einige Wochen nachdenklich und schien große Pläne zu wälzen, dann erschien er mit einem lächerlichen Vorschlag: Man sollte Photos von Kriegsgefallenen, Reproduktionen und Vergrößerungen vorhandener Bilder, herstellen, diese Photos farbig ausmalen, eine markige Inschrift darüber drukken und darum einen grünen und goldenen Lorbeerkranz legen. Das würde bis in die kleine Familie hinein die gesunkene deutsche Moral heben und fünfzig Mark pro Exemplar einbringen. Da es nun zwei Millionen Tote gab – man konnte auch an Schwerverletzte denken zu ihrem eignen Trost –, so würden selbst bei einer Beteiligung von nur fünfzig Prozent schon hundert Millionen Mark einkommen, wovon man nach Abzug von zwanzig Prozent Unkosten noch immer achtzig

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