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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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meiner Freundin Hilde über das Elsaß. Man müßte jetzt daran denken, die Elsässer zu modernisieren. Sie sind mir zu deutsch. Sogar meine gute Hilde. Sie gestand mir: Werthers Lotte sei ihr Vorbild. Vor dem Schlafengehen öffne sie jedesmal das Fenster und blicke zum Himmel und singe hinaus: ›Ich weiß nicht, was soll es bedeuten‹, oder ›Sah ein Knab ein Röslein stehn‹.«
    »Anny«, bat Hilde.
    Der Priester: »Das dürfte die Nachbarn entzücken.«
    Aber Anny hatte eine Fährte und hielt sie: »Wir Frauen freuen uns, daß das feine Frankreich hier einzieht und daß die Kirche mitkommt. Denn wir wissen, sie gehen Hand in Hand.«
    Der Priester lächelte behaglich und wartete aufmerksam.
    »Denn es gibt etwas am Deutschen, das mit seiner Urwaldnatur zusammenhängt, und das widerspricht dem Franzosen, und ebenso widerspricht es der Kirche. Es zeigt sich, ich meine, das Urwaldmäßige am Deutschen, in vieler Hinsicht. Sie werden mir erlauben, daß ich als Frau an das vielberufene deutsche Gemüt denke und die gräßliche Art, wie es in den Liebeskundgebungen der Deutschen hervortritt.«
    Der Priester erheitert: »Sie scheinen gradezu einen Feldzug gegen die deutsche Liebe vorzubereiten, nach dem Eintritt des Waffenstillstands. Madame, das wollen wir doch nicht! Wir möchten uns weder in die Politik noch in die Liebe mischen.«
    »Oh, Sie mischen sich doch sehr in die Liebe.«
    »An einem bestimmten Punkte. Wir wünschen auch in ihr einen Platz für die göttlichen Gesetze.«
    Anny, die rechte Hand öffnend: »Aber das meine ich. Wenn ich mich grob ausdrücken soll: Wo die deutsche Liebe hinfällt, da wächst – nein, das nicht, nein, ich wollte sagen, da wächst kein Gras mehr; ich meine: da wächst nur Gras.«
    Der Kuratus wurde unsicher. Er sagte nichts. Eine verhüllte Beichte. War hier ein Glatteis, ein interessantes?
    Anny, die ihre Fährte nicht verlor: »Für eine Frau – und ich darf ja auch als Witwe davon sprechen – ist es wichtig zu wissen: wie weit sieht der Mann in uns nur den fleischlichen Menschen, das Weib, die Eva.«
    »Vollkommen richtig. Die Kirche befaßt sich intensiv damit. Sie gibt natürlich nur die Grundsätze. Es bliebt Sache der Ehegatten, besonders der Frau, für die Praxis zu sorgen.«
    Anny war befriedigt. Sie wandte sich mit diesem Ergebnis Hilde zu, das Gesicht ganz jung und glücklich: »Da siehst du, Hilde, worauf es ankommt: auf das Maß der Annäherung. Man muß sich darin die Initiative nicht nehmen lassen. Entfernung, Anziehung und Abstoßung, die Grade des Magnetismus bestimmen wir Frauen mit Überlegung.« Der Priester schmunzelte: »Sie machen ein Kapitel der Physik und der Koketterie daraus.«
    Anny: »Und eins der Erziehung des Mannes.«
    Hilde begriff nichts. Die Verstörung hatte sich tiefer in sie versenkt. Was war das? Ein Rückfall in alte Zeiten? Sie sah beim Weggehen im Korridor einen dünnen Spazierstock im Schirmständer stehen. Den Stock kannte sie; ein elfenbeinerner Drachenspeier als Griff. Es war – Bernhards. Er hatte ihn stehen lassen. Das Herz stockte ihr.
    Endlich war sie auf der Straße, rasend, daß sie sich hatte verleiten lassen hinaufzugehen, auf den Spuren Bernhards, als ob sie da etwas anderes als Gift finden konnte.
    Sie stand vor dem Westminstercafé, mit dem neuen Schild »Café de la Paix«. Eine Masse Menschen hörte der Musik zu und ließ sich, trotz der Kälte, von der Lichthelle anstrahlen. Das hatte er aus ihr gemacht, daß sie noch jetzt so dastehen mußte, zerstört, zerstückelt, er, der sie nicht losließ. Aber wozu hatte sie den ganzen Krieg erlebt, wozu war sie hierhergegangen, und sie war doch schon frei von ihm geworden, von ihm, der hier die ganze schreckliche Zeit benutzt hatte, um sein Unwesen zu treiben.
    Und jetzt hatte er Anny.
    Und was war es mit den beiden glatten Mamsells, den Schwestern, die nach Paris wollten? Der ganze Krieg, der Millionen bester Menschen vernichtet hatte, hatte nicht vermocht, diese Bestie umzubringen.
    Ich bin 1914 herausgegangen, ich habe Tag und Nacht gearbeitet.
    Ich habe krank gelegen. Ich bin krank nach dem Elsaß zurückgekehrt, habe wieder gepflegt. Die Kranken, die Sterbenden drangen zu mir, wie ein kalter Wind durch Türritzen. Es ließ nicht nach. Sie ließen sich zu unsern Füßen nieder, die Flüchtigen, Frauen und Kinder. Das kleine Lazarett, Richard der Flieger, Maus, Becker, alles, alles. Und nach vier Jahren dieses Lebens, solchen Grauens, und Sichaufgeben, Opfern, Hingeben,

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