November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
aufhängen.« »Sind das die einzigen, die man hängen soll«, ließ sich wieder der Landstürmer vernehmen, »sie sind doch zu Tausenden gerannt, wie ihr oberster Kriegsherr.« Der Schreiber neben dem Vorsitzenden klatschte freudig in die Hände.
Der Landstürmer richtete sich jetzt aus seiner halb liegenden Haltung auf: »Wenn du erlaubst, Kamerad, und wenn der Punkt jetzt erledigt ist, wollte ich überhaupt was sagen. Wozu hat uns Kamerad Georg, unser Vorsitzender, eingeladen? Wegen Abmarsch und Transport? Gut. Haben wir weiter keine Sorgen? Wir Soldaten? Die Heimat wartet auf uns. Wenn wir kommen, will sie von uns wissen, was geschehen soll, nach vier Jahren Massenmord. Wie wir abrechnen werden. Das bißchen Abtransport lohnt nicht das Zusammensitzen. Das kann Kamerad Georg mit einem von uns schon zustande bringen. Wie wollen die Regimenter die Revolution weiterbringen? Was für eine Aufgabe stellen sie sich?«
Der Unteroffizier: »Das geht zu weit, Kamerad. Wir wollen nach Hause. Der eine ist von da, der andere von da. Da wird jeder seine Pflicht tun.«
Der Schreiber warf seine Feder auf den Tisch: »Unerhört. Das will ein Soldatenrat sein.«
Tumult. Alle standen auf. Der General und der Major gingen auf den Vorsitzenden zu, der ihnen entgegenkam. Draußen lehnte der alte Offizier an der Wand: »Geben Sie mir Ihren Arm, Herr Major.« Sie schritten langsam die Treppe herunter. Der Major: »Sie haben kräftige Leute. Es wird hart hergehen im Reich.« »Ich werde bleiben, bis die Regimenter abmarschiert sind. Nach der letzten Kompanie zieh’ ich meinen Rock aus und –. Ich ertrage es nicht.«
Die Polizeistunde im Städtchen war auf acht Uhr angesetzt, aber die Menschen drängten sich spät in den Hauptstraßen, in den finsteren Gassen. Über den weiten Platz vor der Post gegenüber dem Theater, das nicht spielte, strömten Menschen aus den Seitenstraßen. Sie stiegen sonst die paar Stufen zur Post hinauf, wo ein kleiner Kasten hing, beleuchtet von einer trüben Gasflamme. In dem Kasten hinter einem Drahtgitter klebte noch der letzte Tagesbericht der Obersten Heeresleitung vom 8.November. Da hieß es: »Der Franzose, der sich nordöstlich von Oudenarde erneut auf östlichem Scheldeufer festsetzt, wurde im Gegenangriff wieder über den Fluß geworfen. Zwischen der Schelde und der Maas haben wir die Bewegungen in letzter Nacht planmäßig weitergeführt. Vor unsern neuen Linien entwickelten sich Nachhutkämpfe, die südlich der Straße Valenciennes–Mons an der Sambre, nördlich von Avesnes und auf den Maashöhen südwestlich von Sedan größeren Umfang annahmen. Sie endeten überall mit der Abwehr des Gegners.«
Sie gingen heute nicht hinauf, sie blickten nicht hinauf. Einige trieben Pferde; in kleinen Rudeln wurden kräftige Tiere seit Nachmittag durch die Stadt getrieben, sie stammten aus der Dragonerkaserne, vom Truppenübungsplatz, Soldaten verkauften sie.
Im Finstern trat der Spengler Jund aus seinem einstöckigen Haus auf die leere Straße, schlug den Mantelkragen hoch. Über dem Damm neben der kleinen Schreibwarenhandlung brannte Licht in einem Konfitürengeschäft. Das Licht drang durch den Vorhang einer Stube, der Laden selber war finster, geschlossen. Jund klopfte gegen das Stubenfenster, der Vorhang wurde zurückgeschlagen, eine Nase preßte sich drin an die Scheibe. Jund schob sein Gesicht in den Lichtschein, der Vorhang drin fiel zurück, die Haustür knarrte. Er trat ein. Die Frau machte Zeichen, still zu sein. In der Wohnstube schlief in einem Messingbett ein Kind, die Lampe war durch eine Zeitung abgeblendet. Jund zog seinen Mantel aus, während die Frau, die Arme gekreuzt, vor dem Kinderbett stand und ihm stumm zusah. »Ich bleib’ bloß eine halbe Stunde«, sagte er. Sie blähte die Nüstern, preßte die Lippen zusammen, antwortete nicht. Sie war viel jünger als er, Ende zwanzig, klein, füllig, er stand in den Vierzigern, hatte kurzgeschorenes dunkles Haar, tiefliegende Augen, kleinen dunklen Schnurrbart, war von langsamen Bewegungen. »Redst doch gar nicht«, sagte er und setzte sich. Sie flüsterte: »Das Kind schläft noch nicht. Und du sollst doch nicht kommen.« Er wischte sich über das Gesicht: »Ich weiß. Er ist doch nicht da.« »Wenn er aber kommt.« »Dann kann er aber heute auch noch nicht da sein. Vor dem Fünfzehnten kommen sie überhaupt nicht.« »Woher weißt du?« »Das kann man sich an den fünf Fingern abzählen. Außerdem ...« Sie unterbrach, machte eine heftige
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