November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
es wirklich stimmt, weil ich es nicht glauben kann. Ich war doch hier zu Hause. Die Kinder sind in meinem Forsthaus geboren, jetzt sind sie raus, und man soll nicht wieder zurück. Meine Frau schreibt: Geh nicht zu rasch weg aus dem Elsaß, du kommst sonst nicht mehr rein, die Leute sind launisch, es gibt sich schon alles wieder. Sie hängt an dem Land wie ich. Darum sitze ich hier und warte.«
Er weinte still hinter seinem Schnupftuch vor den beiden Offizieren. Der Major: »Wie alt sind Sie?« Der General strich sich unruhig den Schnurrbart, er winkte abwehrend dem Major zu: »Lassen Sie das. Sie sind Junggeselle, Major, verstehen nichts von Familie.« »Gott sei Dank.«
Der Major hatte nichts dagegen, daß sich die beiden Verwandten, die noch eine Weile ernst und rührselig herumsaßen, von ihm verabschiedeten. Er versprach, sie am Abend zu besuchen.
Dann streckte er allein die Beine aus, hielt sich die Ohren zu, weil die Kirchenglocke mächtig losschlug, er machte ein gequältes Gesicht. Als die Glocke nicht aufhörte, riß er wild das Fenster auf und blickte auf die schmale Straße hinunter, die Leute spazierten da friedlich. Dann trampelte er über den Zeitungsberg, schob sich an dem Hochzeitsbett vorbei und klingelte nach heißer Schokolade. Er fluchte laut.
Weil er vergrämt und zittrig trank, fielen zwei Tropfen auf die braune Tischplatte. Er sah sie nicht gleich; erst wie er das Geschirr wegschieben wollte, fiel sein Blick auf die beiden Schokoladentropfen. Er sah sie ohne Interesse an und stellte die Untertasse nieder. Dann trank er eine zweite Tasse und fühlte sich besser. Er fluchte auf dies Land hier. Zufällig verschob sich die Untertasse. Die beiden braunen Tropfen, der eine etwas verwischt. Ärgerlich deckte er wieder die Untertasse drüber und setzte sich am Fenster in den Sessel vor den Zeitungsberg. Es war jetzt ganz still. Plötzlich fühlte er sich gezwungen, von der Lektüre aufzustehen, an das verfluchte Hochzeitsbett dieses widerlichen Hoteliers heranzugehen und wie ein Hund, dem einer ein Wurststück hinhält, auf den Tisch zu stieren, auf das Geschirr. Er mußte die Untertasse aufheben. Die verdammten beiden runden Tropfen waren noch da. Er knirschte, schlug mit der Faust auf den Tisch, daß das Geschirr klirrte, giftete die Tropfen an, seine Fäuste ballten sich, er wagte aber nicht, sie anzurühren. Er stürmte an den Garderobenständer, rein in den Mantel, den weichen Hut auf, runter. Auf der Straße blies er vor sich, vergaß es.
Als er spät abends wiederkam aus dem Offizierskasino, wo er Bekannte fand, und Licht knipste, fielen ihm die beiden Tropfen ein. Eine Ängstlichkeit umfing ihn. Der Tisch war abgedeckt, sauber! Er strich mit der flachen Hand über die Platte. Immerhin wusch er sich vor dem Schlafengehen mit besonderer Sorgfalt die Hände, bevor er sich in das alberne Hochzeitsbett dieses Elsässers da unten, dieses blöden Hoteliers legte. Man hätte mit dem Pack wirklich anders umspringen sollen.
Sie schlenderte durch die liebliche Stadt Straßburg.
Es war ihre erste Nacht in der Heimatstadt gewesen. Gut und tief, wunderbar tief hatte sie geschlafen. Sie war nicht nach Hause gegangen, ihr Mund war noch verschlossen. Und mit dem Geschmack dieser Nacht bewegte sie sich durch die Straßen. So hatte sie sich seit undenklicher Zeit, seit ihrer Kindheit nicht im Besitz ihrer Glieder gefühlt, solche Ausgesöhntheit herrschte zwischen ihrem Körper und ihren Gefühlen. Sie strich gedankenvoll an dem graugrünen Flüßchen entlang.
Und während sie ging und ihre Glieder bewegte, war sie vermählt mit der langsamen undurchsichtigen Strömung, mit der alten St.-Nikolaus-Kirche. An der Kaufhausgasse bog sie in die Stadt ein und wurde die Küfergasse heraufgezogen.
Ein silberner Nebel lag um die entfernten Häuser und Häuschen und bettete die Dächer und fernen Türme in eine gläserne Schmelze ein. Da war der Gutenbergplatz. Sie wunderte sich nicht, daß es Blumenstände gab und alles wie im langverflossenen Frieden war. Frauen hatten immer hier gestanden, immer hatten sie die Körbe und Tische voller bunter Blumen vor sich gestellt. Denn das war der Gutenbergplatz.
Inzwischen hatte sie Schlachten, Feld- und Kriegslazarette gesehen, unaufhörlich Soldaten, gesunde, marschierende, genesende, kranke, verwundete, sterbende.
Vier Jahre waren am Rande des Todes verlebt.
Jetzt stürzte das alte Leben auf sie, mit dunklem Wohlgefühl flutete sie dem alten Leben entgegen. Es war
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