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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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links schossen die Linien wieder hoch. Ein Spitzenwerk war über Fenster gelegt. Links die Turmspitze konnte man im Nebeldunst nicht mehr erkennen. Es war, als wenn man die Beine eines Riesen emporsieht und am Bauch haltmachen muß.
    Die Glocke schlug zwei Töne an. Das war der Ruf. Sie trat in die Kirche, das Münster nahm sie an sich, die dunkle Riesenhalle ergriff sie und schloß sie ein. Sie hatte, wie sie sich in den Gewölben, Pfeilern und in dem fernen Altar wiederfand, den Wunsch, aus übervollem Herzen das Übermaß an Kraft und Glück, das sie fühlte, auszugießen und abzugeben.
    Da war ein Altar vor einer lieblichen Muttergottes mit dem Kind aufgebaut. Lange Kerzen flackerten davor. Keiner kniete am Gitter, sie kniete hin, beide Hände an den Stangen, das Gesicht gegen das kühle Eisen, und zu ihr geblickt und gesprochen. Maria wunderselig stand und trug das Kind.
    Dein bin ich, Maria. Unter deiner Obhut will ich stehen, Maria, zu mir gehörst du, dein bin ich, Maria.
    Und als sie lange genug gekniet hatte, flüsterte sie: »Verzeih mir, Maria«, und stand auf. Sie atmete. Es war jetzt alles besser. Sie stand vor dem Gitter, von dem Kerzenlicht angeleuchtet, noch eine kleine Weile mit geschlossenen Augen. Dann – kein Blick mehr in die lockende herrliche Riesenhöhle der Kathedrale, – soviel Schätze besitze ich, ein andermal, – und ging langsam hinaus.

    Zu Hause war die Wohnungstür angelehnt, sie trat ein, öffnete die Küchentür leise am Eingang. Auf dem Tisch lagen ausgebreitet Papiere neben einer Zeitung von heute. Was tut der Vater? Ein Erlaubnisschein zum Betreten und Verlassen des Sperrgebiets auf den Namen des Vaters, ein Kartenumschlag vom städtischen Lebensmittelamt Straßburg, Zahl der Haushaltungsmitglieder eins, ah, Vater wirtschaftet allein, der elsaßlothringische Taschenfahrplan, wohin reist er denn, über den Mülleimer angeklebt ein Flugblatt: Hauptsammelstelle der Straßburger Schulen, nichts, was Wert besitzt, darf unverwertet zugrunde gehen, du erhältst eine Sammelmarke für jedes halbe Kilo trockener Lumpen, zerrissene Stiefel und Schuhe, Frauenhaar, mein Gott, Frauenhaar, was machen sie damit, du erhältst eine Sammelmarke für je zehn Gramm nicht gewikkeltes Frauenhaar, zur Herstellung von Treibriemen und Filz.
    Die Tür bewegte sich, der Vater sagte hinten: »Wiedergekehrt.« Am Küchentisch umarmen sie sich, der Vater flüsterte: »Tante Eckhard hat mir schon erzählt.« Sie roch den scharfen Tabakgeruch seines Mantels, dann etwas Muffiges, Vater, lieber Vater, er ist allein. Erst wie er sich von ihr losmachte und mit einem Küchenhandtuch an ihrer Schulter wischte, entschuldige, Hilde, konnte sie ihn sehen. Oh, wie er alt geworden war, ein Greis. Sein Kopf, so energisch früher mit klug blitzenden Augen, sein Kopf mit einem Kranz von weißen Haaren, war jetzt blank wie eine Billardkugel. Die gelbweiße Haut runzelte über den Ohren, ganz nackt der Schädel, und das Gesicht trat hervor, ein klein gewordenes Greisengesicht mit schlaffen Wangen, die Augen wehmütig sanft. Er nahm sie beim Arm und führte sie über den Flur in das kleine Wohnzimmer. Sie mußte an der Schwelle stehenbleiben, so schlug ihr das Herz. Die Straßen hatten sie selig gemacht, hier zitterten ihr die Knie, und sie wollte nicht.
    Sie zwang sich, der Vater wollte sie in den Lehnstuhl der Mutter nötigen, aber sie legte erst Haube und Mantel ab, strich ihr weißes leinenes Schwesternkleid glatt, er setzte sich ihr gegenüber und sah sie glücklich und bewundernd an. »Hast du die Stadt gesehn?« »Ich war im Münster, beten.« »Gut, mein Töchterchen, gut.« Er drückte ihr über den Tisch die Hand, der alte ruckweis wiederholte kräftige Händedruck.
    »Du findest hier alles auf den Kopf gestellt. Wir sind ohne Gesetz. Die Versorgung mit Lebensmitteln stockt völlig. Es scheint, die Bauern streiken.« Jetzt zog er die Augenbrauen zusammen, sein alter prüfender Blick tief, wie aus dem Kopf heraus, er setzte sich grade: »Bezahlte Lausejungs, Franzosenköpfe rennen herum, randalieren, zertrümmern Denkmäler, reißen Bilder herunter, plündern Geschäfte. Die Polizei kommt immer zu spät. Wir sind eben dabei, eine Bürgerwehr zu organisieren.« »Es war in unserm Städtchen ebenso.« »Und dazwischen müssen sich unsere armen tapfern Soldaten stoßen lassen, unbeachtet, keine Begrüßung, ein jämmerlicher Abschied. Es ist schändlich, Hilde.« »Man sagt, die Franzosen kommen bald.«
    Er trommelte

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