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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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ein Begrüßen, ein Hinundherbewegen auf der Straße. Mit keinem hätte sie ein Wort tauschen können, die Sprache war ihr – seit gestern – verschlagen.
    Da oben steht der alte Gutenberg, schwarz, ganz schwarz, von Druckerschwärze, wie es sich gehört. Da war das Fräulein Mohr, die erklärte in der Schule die Reliefs.
    Sie blickte eine Reliefplatte an, fand ein Stück Leben darin, nahm es an sich und ergänzte sich.
    So wollte sie weitergehen. Aber sie hatte ihre Mutter gefühlt, sie führte das kleine Mädchen zur Schule, ein ernster stummer Spaziergang ... Hilde machte in Gedanken kleine Augen – man sollte nicht sprechen, das Kind sollte schweigen lernen, Vater zuhause wollte Ruhe. Mutter war längst tot, sie hatte den Vater verhätschelt, darum sank er zusammen, als sie starb. Bernhard tauchte im Hause auf. Vater hätte nicht leben können, wenn Bernhard nicht gekommen und sein Assistent geworden wäre, Vater mochte ihn nicht, weil er keine Selbständigkeit neben sich ertragen konnte, aber warum hielt er ihn eigentlich? Und Hilde staunte, während ihre Augen wieder auf dem Relief mit Gutenbergs Presse lagen, als ihr der Gedanke kam, daß der Vater ihn grade deshalb bei sich behalten hatte, um mit ihm zu zanken, da er nichts mehr zum Lieben hatte.
    Ihr Blick flog zur Seite. Blumen, Tauben, und die großen Arkaden drüben, die dunklen lieben Gänge. Man steht gut im Regen da. Sie verkaufen noch immer Photos, Ansichtskarten für die Fremden, Andenken, Brandmalerei. Abgerissene Soldaten gingen einzeln drüben, die Hände in den Manteltaschen. Ein liebevoller Gedanke schwang zu jemand in der Ferne, auf dem Liegestuhl. Ihre Hand fuhr hoch, tastete nach den Knöpfen, der Mantel war über der Brust geschlossen.
    Im Zickzack schlenderte sie durch die Straßen, die sich belebten. Sie trug ihren langen schwarzen Mantel und die dunkle Schwesternhaube. Und als sie am Theater vorbei über die Brücke zum Kaiserplatz kam – und immer Soldaten, rasselnder Train –, sank sie auf eine Bank hin, plötzlich getroffen vom Anblick eines leeren Sockels. Das war das Kaiserdenkmal. Der Krieg war zu Ende, der ganze lange schwere Krieg, vier Jahre, und sie war wieder zu Hause. Und eine unmeßbar kleine Zeit lang wogte über sie: Krieg, Bernhard, die Flucht, die Freiheit, Sterben, Niederlage, Plünderung, Wirrwarr im Lazarett. Als sie aufatmete (denn es war nur die Stockung eines Atemzuges), fühlte sie sich eisig, als wenn ihr die Kleider abgerissen wären. Sie zitterte, ihr Blick haftete noch ohne Bewußtsein an ihrer Schuhspitze, sie erkannte sie, wippte den Fuß und fand sich in ihren Gliedern, ihren Kleidern. Sie stand auf und mußte sich kräftig bewegen. Und ihre Füße bewegten sich, irgendwohin spürend, wieder zur Brücke zurück, die Hohenlohestraße herauf, es war ihr ehemaliger Schulgang, zur höheren Töchterschule.
    Und da stand vor ihr eine starke alte Frau unter einem kleinen Kapotthut, eine Frau mit einem mächtigen Rücken und Hintergestell. Hilde wollte weitergehen, aber die Frau hielt sie an der Hand fest und lächelte sie an. Es war Mutters Schwester, Tante Eckhard, man küßte sich auf der Straße, ich komme eben an, ich gehe grade zum Vater – Hilde du kommst doch nachmittag zu mir, mit Vater, zum Kaffee, ja, wir haben Kaffee, woher, das verrate ich dir nicht, bloß keine Milch.
    Die Sonne schien links hinter dem Münster. Hilde kam die Bruderhofgasse her, sie ging seitlich am Münster entlang, sah ein kleines Tor, dann vorne drüben die hohen Massen des Turms. Am Kammerzellhaus blieb sie stehen.
    Sonnenüberflutet der fast leere Platz. Der silbergraue Nebel schob sich von unten den Turm hinauf. Er wurde oben dichter, weißer, ein Glast, der das Licht höher trug. Was fühlte sie, als sie sich vom Kammerzellhaus löste und sich auf den Platz wagte, das große Bauwerk über sich, neben sich? Sie ging in die Nähe eines riesigen, schützenden, überschattenden Wesens. Nichts als Dankbarkeit, Glück und Entzücken in ihr. Oh, sie wußte schon, daß sie bald in eine schimmernd dunkle Riesenhalle treten und vor ein Muttergottesbild an einem Pfeiler hinknien würde.
    Sie blickte, kleiner Mensch, junge Frau, eine Krankenschwester, auf dem Platz in die Höhe. Das Gewimmel der Spitzen und Stangen und Pfeiler lichtete sich. Es liefen viele Linien nach oben, aber unten rundeten sich drei Pforten, und über dem Mittelportal drehte sich eine Rosette und dämpfte das Laufen und Schießen, aber nur eine Weile, rechts und

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