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November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)

Titel: November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alfred Döblin
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mit den Fingern auf den Tisch: »Dann fängt es erst für uns an. Sie werden kommandieren. Die neuen Herren. Wir sollen umlernen. Umlernen, verstehst du?« (Lieber Vater, wie lange wirst du dann noch leben.) »Du kannst Französisch, Vater.« »Sprechen, Hilde. Aber denken, nein. Ich habe auch nicht nötig, es zu denken. Was ich denke und gedacht habe, ist gut.« Das sagte er hart und offenbar gegen einen unsichtbaren Gegner, er hielt dabei den kahlen Kopf gesenkt, der Schädel ist unheimlich stark. »Und ich will auch nicht, ob ich jung oder alt bin. Ich verrate mein Leben nicht. Ich habe keinen Grund dazu.«
    Unter zusammengezogenen Brauen blickte er sie an, ah, welche Kraft der Vater, ah, wie gut er hier in der Stube sitzt, es ist doch auch meine Stube. Und sie konnte gespannt und erwartend zurückgeben: »Hast recht, Vater.«

    Vor dem Justizpalast trieb sich am Finkmattstaden unter den vielen Menschen, abgerissenen Soldaten, Krakeelern, Neugierigen, der Pfarrer herum, der am liebsten in das Haus wollte, um denen drin die Leviten zu lesen. Aber die Kontrolle war scharf. Ihn hatte die verwitwete Frau Oberleutnant noch immer nicht losgelassen. Neugierig blickte sie hinter ihrem koketten Witwenschleier um sich, es war alles himmlisch in der Stadt; sie war froh, daß man ihren Pfarrer nicht ins Haus einließ, sie brauchte einen Begleiter. Er wollte nicht recht. Sie wußte schon lange, daß er nicht wollte. Wenn sie doch erst einen andern gefunden hätte.

    Das und anderes riß die liebliche alte Stadt nicht um. Obwohl die Zeitungen wilde Nachrichten brachten und die Journalisten ihr mächtiges Gewerbe, das Schaumschlagen, die Hemdsärmel hochgewickelt, betrieben, so beschäftigte sich die gute Stadt vor allem damit – dazusein, den Platz, den ihr das Geschick auf der Erde eingeräumt hatte, ruhig und kräftig einzunehmen, das Illflüßchen durch sich passieren zu lassen, die Brücken über das Wasser zu heben, die Gäßchen, Straßen und Plätze in Ruhe auszubreiten, damit die Menschen leben konnten. Es gab schon lange für einen einfachen Mann nicht grade viel zu essen in der Stadt. Dafür wurde sie überschwemmt von farbigen Speisekarten, Obst- und Gemüsemarken, die sorgfältig aufzubewahren waren, da die Marken bis auf weiteres in Kraft blieben, die Marken waren aber, wie auf ihnen selber stand, nur zur Regelung des Verkehrs gedacht und gaben keinen Anspruch auf Ware. Grün prankte die Obstkarte der Stadt Straßburg, rötlich die Fettkarte, jede Marke galt für 62,5 Gramm Speisefett oder 1/10 Liter Speiseöl, dies auch in Schiltigheim, Bischheim oder Hönheim. Für Brot hatte man die Brotkarte von violetter Färbung, da berechtigte jeder Abschnitt auf 50 Gramm Brot oder 33 Gramm Mehl und drei Abschnitte galten für 100 Gramm Mehl, alles nur zur Reglung des Verkehrs.
    Da man den Leib nicht trösten konnte, war man darauf bedacht, die Seele zu erfreuen. Daher fanden die Menschen auf ihren Brotkarten Bilder von dem schönen Illfluß mit seinen Brücken, sie konnten auch die törichte Jungfrau vom Münster betrachten.
    Seit Mittag wehte die rote Fahne auf dem Turm des Münsters, die Orgel spielte drin darum nicht besser, nur ein paar Leute blickten in die Höhe. Ferner hielt Herr Lloyd George aus London eine Rede, Kaiser Karl war nicht mehr in Wien, sondern auf der Flucht, gewaltiger Jubel herrschte darüber angeblich bei einigen Völkern; ob es stimmte, darüber waren die Meinungen geteilt. Mehr fiel in die Augen, daß ein Schlossermeister in der Knoblauchgasse sich ausschließlich mit dem Anbringen von Fahnenhaltern beschäftigte. In den Gewerbslauben stellte eine ältere Frau einen großen Posten hochmoderner Haarfilz- und Samthüte im Preise von 15 bis 30 Mark zum öffentlichen Verkauf, sie wollte die alte Ware rasch abstoßen. Gezuckerte Elsässer Weißweine 1918 waren vom Land in Waggons eingelaufen und stellten sich auf 240 Mark der Hektoliter, sie konnten auf rasche Abnahme rechnen. Es ist beinah überflüssig zu bemerken, daß man Kinderwagen und Kinderstühle an mehreren Stellen billig kaufen konnte, daß moderne Schlafzimmer, eichene Eßzimmer und Waschkommoden ihren ewigen Marsch auf junge Ehepaare nicht unterbrachen. So gewiß der berühmte Mond sich weiter um die Erde drehte, so gewiß drängten auch jetzt neue oder wenig benutzte Pelzjakken nach zahlungsfähigen Trägern. In Blumengeschäften wurden saubere Laufmädchen benötigt. Ein Installateur fuhr mit seinem kleinen Wagen zu einem privaten Herrn,

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