November 1918: Eine deutsche Revolution: Erzählwerk in drei Teilen Erster Teil: Bürger und Soldaten 1918 (German Edition)
Kranke, die man im Gebäude der Inneren Station zusammengelegt hatte, verlebten einen Festtag. Sie bildeten mit den Sanitätern eine geschlossene Gruppe, die über alles verfügte, was man für eine lange Reise durch Deutschland benötigte. Denn es hieß, man werde gut zehn Tage unterwegs sein.
Der Krieg war aus. Der Himmel hing nicht grade voller Geigen, aber er war gewissermaßen raketenhell. Man bekam von einem elsässischen Landwirt, ehemaligem Patienten des Lazaretts, ein lebendes Schwein geschenkt. Und alle liefen, es zu sehen, und inspizierten die gewaltigen Speisevorräte, die für eine Polarexpedition ausgereicht hätten. Denn das Vorratsmagazin des Lazaretts hatte man siegreich verteidigt gegen den Ansturm der Weiber, deren Gier auf die Wäsche- und Geschirrkammern abgelenkt war.
Mittags aßen und tranken sie, und es gab Extrabier. Die Heiterkeit stieg rapid. Sonderbarerweise sang man im Haus immer wieder: »Es braust ein Ruf wie Donnerhall.« Wenn man aber wissen will, warum, so war die Erklärung die: erstens ließen sie ihren Gesang brausen, so daß man auf der Chaussee den Kopf schüttelte, und dann ging doch ihre Fahrt: »Zum Rhein, zum Rhein, zum deutschen Rhein.«
Es wurde nach drei dämmerig. Um fünf Uhr weckte Becker seinen Freund, der auf dem Bett lag, indem er ein nasses Handtuch langsam über seine Stirn hin- und herzog, und ihm ins Ohr flüsterte: »Es regnet.« Maus schlief noch eine Weile weiter, dann öffnete er die Augen, ohne wach zu werden. Geduldig zog Becker an seinem Tuch, bis Maus danach griff. Maus blickte zum Fenster: »Schlechtes Wetter.« Becker lächelte: »Also auf. Wir müssen uns umziehen. Du sahst eben so glücklich aus.« »Sie hat mich nochmal besucht, eben im Traum. Hätte nicht geglaubt, wie verschossen ich bin.« Und er ließ, auf dem Bettrand sitzend, den blühenden jungenhaften Kopf in den Nacken fallen. Und er sprang auf: »Also umziehen, zur großen Reise ins Unbekannte. Keine Sentimentalität.«
Das Stehen bereitete Becker große Schmerzen, er bezwang sich, Maus bewunderte ihn, wie er Fortschritte machte. Um sechs, es war draußen stockfinster, saßen sie fertig angezogen, die Mäntel umgehangen, in ihrem kleinen Zimmer, die Mützen auf dem Bett.
Auf dem Korridor entstand einmal Geschrei, offenbar wurden noch die letzten Minuten benutzt, um zu stehlen, der Lärm war sehr stark, ein paar Leute rannten an ihrer Tür vorbei, dann gab es Schimpfen und Lachen.
Finster nahmen sie es auf, Becker stöhnte: »Heiliger Gott«, und ballte die Fäuste. Maus: »Nicht die Nerven verlieren, wir werden sie noch brauchen.« Was draußen vorging, war aber nicht, wie sie vermuteten, eine Jagd auf Diebe, sondern die Befreiung des Geisteskranken und Simulanten, jedenfalls Deserteurs Ziweck, den man als Bayern mittransportieren wollte. Aber er entwischte, er wurde mit Gewalt fortgeführt von zwei Männern in Soldatenuniform, die die rebellische Barbara mobilisiert hatte, zwei Männern aus ihrem Heimatort.
Um acht Uhr war alles am Bahnhof des Flugplatzes versammelt, Magnesiumfackeln leuchteten. Auf Bahren trug man Grippekranke. Hoch und langsam, in einen dicken Soldatenmantel verpackt, rechts einen Stock und links einen Stock, bewegte sich Oberleutnant Becker, sein fleischloses Gesicht in dem mitleidlosen Fackelschein, der nur weiß und schwarz kannte, wie eine Totenmaske. Rechts und links neben ihm, zur Begleitung und zum Schutz, Leutnant Maus und ein Sanitäter. Zuletzt trug man auf einer Krankenbahre den schwerkranken Chefarzt in ein Sonderabteil, auch seine Frau nahm da Platz. Geschäftig und ernst verlief alles.
Das Lazarett an der großen Chaussee war leer. Nur der Leichendiener schlief in der kleinen Baracke.
In der Nacht kletterte Ziweck auf das Dach und hißte die rote Fahne.
Im Zug
Und nun fuhr der Zug.
Seine Lokomotive war uralt und verbraucht; sie tat, was sie konnte, sie trug einen komischen langen Schornstein, sie hatte schon lange im Schuppen geschlafen, und ihr Traum war gewesen, einmal in einem Museum zu stehen, um ihre letzten Tage zu verdämmern. Es sollte nicht sein, man rief sie auf wie den letzten Mann. Ihr folgten die wohlbekannten Güterwagen für Mann und Pferde, drei Stück. Sie waren im Krieg über alle Grenzen gelaufen, in alle Welt hatten sie Mann und Roß verstreut, die sie getragen, bei Kriegsausbruch waren sie bekränzt gewesen, ihre Türen standen offen, wie aus einer Scheune, mit Heu bestreut, blickten jüngere frisch equipierte Soldaten
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