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Novemberasche

Titel: Novemberasche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: dtv
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alt aus, vielleicht
     spätes neunzehntes Jahrhundert, und Marie fragte sich, ob hier schon immer die Randfiguren der Gesellschaftuntergebracht worden waren, diejenigen, die man sonst nirgendwo haben wollte oder gebrauchen konnte und die hier bis an ihr
     Lebensende verwahrt wurden.
    Ein Gesicht erschien in Maries Phantasie: Dunkle Augen hinter sich spiegelnden Gläsern, die nicht erkennen ließen, in welche
     Richtung der Blick ging. Dieses Gesicht bedeutete ihr so viel. Es war bloß die Vorahnung eines Kusses gewesen, mehr nicht,
     an jenem Samstagabend an der Lindauer Seepromenade. Gehörte auch er in diese Kategorie Mann, die einzige, die sie kannte?
    Marie ging immer schneller, schritt immer energischer aus. Ich will nicht mehr, dachte sie. Ich will mich nicht mehr öffnen,
     voller Hoffnung sein, enttäuscht und verletzt werden. Sie schob das Bild beiseite, das vor ihr entstanden war. Sommerkorn
     und Helen, die sich gegenüberstanden. Sommerkorn, der Helen ansah. Nein, dachte Marie, damit ist jetzt Schluss! Mit all diesem
     Schmerz, diesen Verletzungen und Demütigungen will ich nichts mehr zu tun haben.
    Sie betrat das Gebäude, in dem sich die Aufnahmestation I befand, mit zögernden, beinahe tappenden Schritten. Sie stieg die
     Treppe hinauf, und mit jeder Stufe wuchs ihre Beklemmung. Als sie den oberen Treppenabsatz erreicht hatte, hielt sie inne.
     Hier war es. Noch befand Paula sich in der Aufnahmestation, morgen, vielleicht auch übermorgen, würde sie verlegt werden.
     So hatte es am Telefon geheißen. Dann würde man weitersehen. Sie warf noch einen letzten Blick auf das Schild, so als könne
     sich dadurch noch in letzter Minute etwas ändern, und klingelte. Ein paar Sekunden verstrichen, und eine Frau erschien. Sie
     war zivil gekleidet, trug keinen weißen Kittel. Einen Moment verspürte Marie Unsicherheit. Was, wenn diese Frau eine Wahnsinnige
     war? Und gleich darauf schalt sie sich selbst: Du hast sie nicht mehr alle! Wahrscheinlichbemühen sie sich um Normalität, das ist alles. Ihr Bild der Psychiatrie war jedenfalls weiß: weiße Kittel, weiße Zwangsjacken,
     weiße Wände, weißer Wahnsinn.
    Betont forsch sagte sie: »Grüß Gott! Ich möchte zu Frau Brandauer. Ich hatte angerufen   …«
    »Ja, kommen Sie.« Die Frau lächelte und ging Marie voran durch einen Korridor, der sich nach ein paar Metern zu einem Gemeinschaftsraum
     öffnete. An der linken Wand kauerte ein alter Mann in einem Sessel und las, rechts saßen sich zwei blasse Frauen an einem
     Tisch gegenüber, eine jüngere und eine ältere, und spielten ein Brettspiel. Ein Mann kam ihnen entgegen, fixierte Marie, verlangsamte
     seinen Schritt und streckte ihr seine Hand zur Begrüßung entgegen. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er förmlich, als
     seien sie zu einem Geschäftstermin zusammengekommen. Wieder spürte Marie Unbehagen, und gleichzeitig schämte sie sich. Berührungsängste
     nennt man das, dachte sie. Sie erwiderte den Händedruck, der kräftig und zupackend war.
    »Das ist Sepp«, sagte die Frau. »Kommen Sie weiter.«
    »Zwanzig Jahre in der Psychiatrie, rein, raus«, sagte der Mann zu Marie und blickte sie aus wasserblauen Augen an. Sein Haar
     war ganz kurz und goldblond, vielleicht gefärbt. Als trüge er eine Kappe von goldenem Samt, schoss es Marie durch den Kopf.
    »Kommen Sie«, wiederholte die Frau geduldig. Marie lächelte Sepp zu und folgte der Frau, die ein paar Schritte weiter vor
     einer Tür stehen blieb und klopfte. Als keine Reaktion erfolgte, klopfte sie noch einmal und öffnete die Tür. »Besuch für
     Sie, Frau Brandauer.« Sie nickte Marie kurz zu, begütigend, aufmunternd, und entfernte sich.
    Auch das Zimmer entsprach nicht Maries Vorstellungen vom weißen Reich der Psychiatrie. Die Wände waren in einem warmen Ziegelrot
     gestrichen, und um das Fensterwar ein Muster in Blau gemalt. Rechts der Tür stand ein Schrank, links das Bett. Darauf lag Paula, ihre Handgelenke waren
     verbunden, und sie starrte an die Decke. Was um Himmels willen war geschehen? Hatte Paula etwa versucht   … Marie schluckte. Sie wollte den Gedanken nicht zu Ende bringen.
    »Hallo, Paula«, sagte sie, doch ihre Stimme war ein Krächzen. Paula reagierte nicht, und Marie fühlte sich unglaublich hilflos.
     Am liebsten hätte sie sich auf der Stelle umgedreht und wäre weggerannt. Vermutlich wäre das auch Paula das Liebste gewesen.
    Einen Moment lang stand Marie ratlos vor dem Bett und kam sich völlig unnütz

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