Novemberasche
Kriminalhauptkommissar hin oder her, und so fuhr er verdrossen zum Besucherparkplatz
zurück, um sich dort über die Unverfrorenheit der Stadtväter zu ärgern, die selbst hier Parkgebühren verlangten. Der Aufforderung,
einen Parkschein zu lösen, kam er aus Protest nicht nach.
Gott sei Dank, dachte er, als er durch die große Drehtür die Vorhalle betrat, sieht dieses Krankenhaus zumindest im Eingangsbereich
nicht so aus wie das, was es ist – ein Haus der Krankheit. Die geräumige, ja luftige
Lounge
mit den überdimensionalen Blumen an der Wand erinnerte an die Eingangshalle skandinavischer Museen. Es gab einen großzügigen
Empfangstresen in der Mitte, Glasvitrinen mit anatomischen Modellen, eine Cafeteria, einen Kiosk und einen Friseur. Dann werde
ich mir mal eine Eintrittskarte kaufen, dachte Sommerkorn und musste grinsen.
Ein paar Minuten später war er auf dem Weg in die Kinderabteilung, wo Sabine Wölfle arbeitete. Ein jäher Pfeil der Erinnerung
traf ihn, als er die Treppe hinaufstieg. Er musste daran denken, wie er mit Timmi auf dem Schoß darauf gewartet hatte, dass
jemand sich des Jungen annahm, der beim Spielen mit dem Hinterkopf auf einen Betonklotz gedonnert war und kurzzeitig nicht
mehr gewusst hatte, wer er war. Sommerkorn schluckte. Den Wegnach Hause hatte der Junge seltsamerweise ohne Probleme gefunden. War ja noch mal gut gegangen, dachte Sommerkorn jetzt. Timmis
Schutzengel hatte seine Hand über den Jungen gehalten.
Eine Schwester, groß, blond mit blasser Gesichtsfarbe, stand im Schwesternzimmer und sah ihm durch die Glaswand entgegen.
Sie setzte sich in Bewegung, um ihm zu öffnen.
»Frau Wölfle?«
Sie nickte.
»Sommerkorn von der Polizei Friedrichshafen.« Er hielt ihr seinen Dienstausweis hin, was sie gar nicht zu registrieren schien.
»Ja?«, fragte sie und Sommerkorn hörte deutlich das Misstrauen in ihrer Stimme. Misstrauen gepaart mit etwas dahinter, das
er nicht zuordnen konnte.
»Vielleicht klärt sich die Sache ja sofort auf … Es ist so: Wir haben einen Anruf von Frau Bärlach erhalten, der Lehrerin Ihres Sohnes. Er ist heute nicht zur Schule gekommen,
und sie ist besorgt. Wissen Sie, wo Matthias ist?«
In Sabine Wölfles Augen stand Furcht, ihre Worte klangen hastig. »Nein, er sollte eigentlich in der Schule sein. Aber vielleicht … Er hat das Wochenende bei seinem Vater verbracht, wir sind geschieden. Alle zwei, drei Wochen verbringt er die Zeit von
Freitagabend bis Montag früh bei ihm.«
»Dann haben Sie ihn also am Freitag das letzte Mal gesehen? Wann genau?«
»Am Freitagnachmittag. Er wollte noch zu einem Kumpel in die Innenstadt, und dann direkt runter zum Katamaran, mit dem er
immer nach Konstanz fährt. Aber …« Sie verstummte abrupt. Sabine Wölfle schloss die Glastür und hielt einen Augenblick inne. Dann trat sie zum Telefon, entschuldigte
sich und tippte hektisch eine Nummer ein.
»Ja, ich bin’s. Sag mal, ist Matti etwa noch bei dir? Nein? Aber … das kann doch nicht sein! Was?« Sie ließ den Hörer sinken, Panik flackerte in ihrem Blick.
»Matthias ist das ganze Wochenende nicht bei ihm gewesen. Er hat am Freitagabend angerufen, als er eigentlich schon unterwegs
hätte sein sollen. Er hat gesagt, er müsse sich für die Deutschklausur vorbereiten und könne deshalb nicht zu seinem Vater
kommen.«
Sie hielt das Telefon wieder ans Ohr. Es ging noch eine Weile hin und her, bis sie Sommerkorn den Hörer in die Hand drückte.
»Hallo? – Ja, von der Polizei. Erinnern Sie sich, wann Ihr Sohn Sie Freitagabend angerufen hat? – Um halb sieben. Und seitdem
haben Sie nichts von ihm gehört?«
☺
Im Radio haben sie von dem Brand berichtet. Irgendwie hat Mam was gemerkt, sie hat mich angesehen und gefragt: Warum bist
du so blass geworden? Der Mann wurde mit schwersten Verbrennungen ins Krankenhaus eingeliefert. So etwas darf nie wieder passieren.
ER sagt, dass ohne Opfer noch kein Krieg gewonnen wurde. Wo gehobelt wird, fallen Späne und so ’n Schwachsinn. Ich habe gesagt,
wir sollten uns viel eher die friedliche Revolution von 89 als Vorbild nehmen. So geht’s doch auch. Aber sie haben nur gelacht.
Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich kann doch nicht aussteigen. Dann bin ich nicht nur allein. Dann hab ich wohl auch Feinde.
Aber ich will niemandem Schaden zufügen.
*
Marie blinzelte. Ja, das war ein Déjà-vu, das kam ihr bekannt vor. Schon einmal hatte Marie vor dem
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