Novemberasche
Kartenhaus aus Unwahrheiten. Hätte ich doch nur einmal
zum Fenster hinausgesehen, dann hätte ich sie dort sehen müssen, die ganzen Lügen. Aber ich habe es nicht getan, stattdessen
habe ich mich dazu entschlossen, das Haus weiter einzurichten. Das Lügenhaus getarnt als Villa in Bad Schachen. Da lohnt es
sich doch, die Augen zu verschließen, nicht wahr?
Und die Kinder, haben die nicht anfangs noch gefragt? ›Wo ist denn der Papa? Warum ist der nie da?‹ Irgendwann hatten sie
ihn ausquartiert, aus ihrem Haus, aus ihrem Leben, sie hatten aufgehört, nach ihm zu fragen. Jetzt, da sie darüber nachdachte,
da alles so klar und scharf, wie mit einem Skalpell geschnitten, vor ihr lag, die gnadenloseWahrheit, erkannte sie, dass er tatsächlich im Leben der Kinder keine große Rolle gespielt hatte. Kein einziges Mal hatte
sie ihn im Kinderzimmer sitzen sehen, kein einziges Mal hatten sie ihm ihre Schätze gezeigt, die billigen Ringe aus dem Kaugummiautomaten,
die bunten Glassteine, die kleinen künstlichen Korallen, die Öre-Stücke mit dem Loch in der Mitte, die sie auf eine Kette
gezogen hatten und anzogen, wenn sie Pippi im Taka-Tuka-Land spielten. Er wusste noch nicht einmal, dass es diese Öre-Ketten
gab, dachte sie plötzlich, und die Bestürzung, die diese Erkenntnis mit sich brachte, trieb ihr die Tränen in die Augen.
Und ich?, fragte sie sich im nächsten Moment. Was habe ich getan? Im Grunde war ich doch zufrieden damit, wenn ich, ohne auf
den Preis zu achten, nach diesem und jenem greifen, damit zur Kasse gehen und es einfach bezahlen konnte. Ich war die Frau
eines erfolgreichen Unternehmers und habe nur in den besten Geschäften eingekauft und dabei den Boden unter den Füßen verloren.
Born to shop, das war mein Lebensmotto. Ein Besuch im
Domicil
. ›Ach, diese Kommode kostet nur dreitausend, wann können Sie liefern?‹ Und ihre Orgien in
Tonis Boutique
. ›Cara, ich habe die neue Frühjahrskollektion von Prada hereinbekommen, ich zeig sie dir vorab, Bellissima, dann kannst du
dir die schicksten Teile schon einmal aussuchen.‹ Ein paar Tausender waren da nichts gewesen. Prada. Kein Maß mehr, kein Maß.
Und nun ist alles weg.
*
»Und die Asche?«
»Hm?« Sommerkorn blickte kurz von der Akte Leander Martìn, die er vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte, zu Barbara auf.
Sie stand an seinen Schreibtisch gelehnt und sah aus dem Fenster, auf die Straße hinunter. Autoszischten vorbei. Es war halb sieben am Montagmorgen – Berufsverkehr.
Sie hob zu einer vorsichtigen Erklärung an. »Na ja, da Paula ja jetzt im Krankenhaus ist … Ich meine, dein Schwager, er ist ja noch nicht …«
»Die
Urne
wird in der Regel zehn bis vierzehn Tage nach der Trauerfeier beigesetzt.«
»In der Regel? Ist es bei Erik anders?«
»Paula hat noch nicht entschieden, wo«, sagte Sommerkorn in einem Ton, der deutlich machte, dass er nicht vorhatte, das Thema
jetzt zu vertiefen.
Er hat ja recht, dachte sie. Das alles ist schlimm genug, und reden macht es auch nicht besser. Betont konzentriert wandte
er sich wieder der Akte zu. Seine Augen huschten über die Protokolle. Er sieht unendlich müde aus, ging es ihr durch den Kopf.
»… vielmehr interessieren, ob zwischen dem, was die Direktorin uns erzählt hat, und dem Verschwinden von Leanders Laptop ein
Zusammenhang besteht«, sagte Sommerkorn und riss sie aus ihren Gedanken. »Das ist das eine. Das andere ist die Aussage dieses
Mädchens, Viktoria. Sie war nicht gut auf Leander zu sprechen. Das hat doch dieser Matthias Wölfle ausgesagt.«
Ein Martinshorn war zu hören, wurde lauter, schriller, ein Krankenwagen raste unter ihnen vorbei, das Blau blitzte grell auf
in der Dunkelheit. Barbara wartete, bis die Sirene verklang.
»Gelinde gesagt … Sie soll ihn gehasst haben, sagen manche. Andere nennen sie besessen.«
»Habt ihr überprüft, wo sie zur Tatzeit war?«, fragte Sommerkorn.
»Zu Hause, sagen die Eltern.«
»Und die sind sich sicher, dass das Mädchen nicht doch unterwegs war. Unbemerkt. Kann sie Auto fahren?«
»Du siehst zu viel fern.«
»Also hat sie den Führerschein?«
»Sie ist achtzehn und fährt, seit sie siebzehn ist.«
»Kann sie unbemerkt ihr Elternhaus verlassen?«
Barbara zuckte die Achseln. »Ich schau mir heute ihr Zimmer an.«
Sommerkorn blätterte ein paar Seiten um.
»Die Aussagen passen nicht zueinander. Wir haben gewissermaßen zwei Blöcke: Frau Bärlach, aber
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